Digitale Lösungen unterstützen Shopfloor-Teams
Der Getriebehersteller IMS Gear in Villingen-Schwenningen und der Wasser- und Wärmezählerhersteller Qundis in Erfurt testen Systeme, die den Mitarbeitenden in der Produktion mehr Selbstbestimmung ermöglichen. Zwei Beispiele für die neue Flexibilität in der Produktion.
Es ist Montag, 14 Uhr, und Tanja Fleig tritt zur Spätschicht bei IMS Gear in Villingen-Schwenningen an. Die 55-Jährige trägt das blonde Haar zum Pferdeschwanz gebunden, damit es ihr bei der Arbeit nicht in die Quere kommt. Fleig ist seit 13 Jahren für das Unternehmen tätig und gehört somit zu den Routiniers in der Belegschaft. Es gibt kaum eine Getriebeart im Sortiment des Herstellers von Zahnrad- und Getriebetechnik, die sie noch nicht montiert hat.
Doch heute ist selbst für eine langjährige Mitarbeiterin wie sie etwas neu. Die große analoge Plantafel, um die sich die Kolleginnen und Kollegen bisher zu Schichtbeginn drängten, hängt etwas einsam an der Hallenwand. Und statt der vielen bunten Namensschilder, die der Zuteilung der Aufgaben dienten, klebt auf der verwaisten Tafel nur ein DIN-A4-Zettel, auf dem in großen Lettern steht: »Ab Montag über Digitale Plantafel«. So endet eine Ära.
Und eine neue beginnt: Heute stehen Tanja Fleig und ihre Kolleginnen und Kollegen vor einem Touchscreen auf Rollen, der hier, in der Produktionshalle, künftig einiges erleichtern soll. Für Fleig und ihre Kolleginnen und Kollegen. Aber auch für den Teamleiter, der früher stundenlang magnetische Namensschilder auf der alten Tafel hin- und herschob, um den Produktionsanforderungen des Tages gerecht zu werden. Heute erledigt sich die Aufgabenzuteilung in Sekunden.
Zum Beispiel jetzt für Tanja Fleig. Als sie vor dem Screen an der Reihe ist, zückt sie ihre Stempelkarte und scannt den QR-Code, der darauf neben ihrem Foto prangt. Ein kurzer Piepton – dann öffnet sich ihr persönliches Portal. Name, Qualifikationen, aktuelle Aufträge. Das System, das hinter der digitalen Plantafel arbeitet, weiß, welche Jobs heute anstehen – und für welche Tanja Fleig qualifiziert ist. Und macht ihr nun eine Reihe von Vorschlägen, zwischen denen sie wählen kann. »Ich nehme Tisch AS-LV010«, sagt sie und zieht los. In dieser Schicht wird sie sich mit der Montage des IMS.52 Pro, das in Düngemaschinen oder Jalousien eingesetzt wird, beschäftigen. Anschließend greift ihr Kollege Matijas Popic zum Scanner. Er plant gleich die ganze Woche durch und trägt sich für den Tisch ein, an dem das IMS.42 Pro gefertigt wird, ein kleines Planetengetriebe, das vor allem in Mährobotern zum Einsatz kommt.
Tanja Fleig und Matijas Popic gehören zu einer 40-köpfigen Gruppe von Mitarbeitenden, die den Einsatz der digitalen Plantafel bei IMS Gear in Villingen-Schwenningen testen sollen. Die Pilotphase wiederum ist Teil des Forschungsprojekts »agileAssembly« des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, an dem 12 Partner aus Wissenschaft und Wirtschaft beteiligt sind. Ziel des Projekts ist es, die Arbeit in der Endmontage agiler zu gestalten. Gleichzeitig sollen den Mitarbeitenden mehr Möglichkeiten der Mitsprache und Mitentscheidung eingeräumt werden. »Selbstorganisation ist in den späten Phasen der Produktentstehung noch kein Standard«, sagt Erdem Gelec, der das Team »Vernetzte Produktionssysteme« beim Fraunhofer IAO leitet. »Hier probieren wir etwas wirklich Neues aus – und zwar mit direkter Beteiligung der Beschäftigten.«
Denn die Anforderungen steigen. Die Märkte sind volatil, Kundenwünsche ändern sich schnell, und Fachkräfte werden immer knapper. Der Arbeitsmarkt ist so angespannt wie seit Jahren nicht mehr. Insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen fehlt häufig die Möglichkeit, Auslastungsschwankungen kurzfristig auszugleichen. Zudem treten vermehrt unvorhersehbare Ereignisse und Krisen auf. »Lineare Abläufe reichen da nicht mehr«, so Gelec. »Wir brauchen flexible Produktionssysteme.«
Der Schwarzwälder Zahnrad- und Getriebehersteller IMS Gear experimentiert bereits seit Längerem mit solchen Konzepten. Ursprünglich hatten Mitarbeitende, so wie das früher üblich war, überhaupt keinen Einfluss auf den Schichtplan. Es waren die Vorgesetzten, die in Excel-Tabellen notierten, wer was wann zu tun hatte, diese ausdruckten und aufhängten. Wie sollte es auch anders gehen? Schließlich wussten nur die Teamleiter, welche Aufträge akut erledigt werden mussten – und wer dafür qualifiziert war.
Vor fünf Jahren dann testete man ein etwas flexibleres System: die analoge Plantafel. Hier gab es zwar auch noch eine Menge Vorgaben, die der Teamleiter machte. Innerhalb dieses Rahmens aber konnten die Mitarbeitenden ihre Einsatzbereiche selbst wählen. »Das war schon eine kleine Revolution«, erinnert sich Maria Aulehla, Projektleiterin »Operation Excellence«. Und es zeigte sich: Die Teams sind in der Lage, Schichten selbstständig zu organisieren. Konflikte wurden geregelt, der Vorgesetzte musste nicht mehr jeden Schritt abnicken. »Damit war klar: Jetzt beginnt ein neues Kapitel«, sagt Maria Aulehla. Die neue digitale Tafel ist der nächste Schritt. Sie bildet nicht nur die alte Logik ab, sondern erweitert diese auch um zahlreiche Funktionen. So kennt das System alle Aufträge, prüft Qualifikationen und Sicherheitsunterweisungen und berücksichtigt zum Beispiel Klebstoffallergien oder andere persönliche Einschränkungen. »Früher musste sich der Teamleiter das alles merken«, sagt Aulehla. »Heute erledigt es die Software – in Sekunden.« Das spart Zeit und eröffnet neue Möglichkeiten. »Wir können viel schneller reagieren und befähigen unsere Leute, selbst Verantwortung zu übernehmen«, führt Aulehla fort. »Für viele ist das auch emotional wichtig. Wer selbstwirksam arbeiten kann, ist motivierter – und bleibt dem Unternehmen eher treu.«
Tanja Fleig und Matijas Popic schildern, wie das in der Praxis aussieht. »Früher kamen wir zur Arbeit, und unser Chef sagte uns, was wir zu tun haben«, sagt Fleig. »Wir haben uns kaum untereinander ausgetauscht«, ergänzt Popic. Sie wussten nicht, wer vor ihnen am Tisch gearbeitet hat und wer nach ihnen kam. Jeder arbeitete ein Stück weit für sich selbst. Das hat sich in den letzten Jahren radikal geändert. »Jetzt kann ich meine Schichten nach meinen Bedürfnissen und Fähigkeiten planen«, sagt Fleig. Wenn sie in der kommenden Woche einen Arzttermin hat und früher gehen muss, trägt sie das einfach selbst ein. Das System fragt daraufhin einen ihrer Kollegen, ob er einspringen kann.
Die digitale Plantafel bietet zudem viele weitere Informationen. Die Mitarbeitenden können auf Störungen an den Montagelinien zugreifen, ihr Arbeitszeitkonto einsehen oder die Materialstückliste für die Getriebe abrufen. »Für uns und vor allem für die Chefs spart es sehr viel Zeit«, sagt Popic. »Die Arbeit ist einfacher, übersichtlicher und schneller.« Teamleiter Mario Schmitz kann sich dank der gewonnenen Zeit besser um seine Mitarbeitenden kümmern, sie unterstützen, coachen und bei Konflikten begleiten. »Das ist eine echte Entlastung«, sagt er.
Matthias Kienzler, Vice President Operations, erkennt im Projekt auch einen strategischen Nutzen. »Wir brauchen diese Selbstorganisation, um in der Transformation bestehen zu können«, sagt er. »Unsere Märkte schwanken, die Aufträge werden kurzfristiger. Da können wir uns keine starren Strukturen leisten.« Durch »agileAssembly« kann schneller auf Auftragsschwankungen reagiert werden. Außerdem werden durch die Umstellung Qualifikationslücken sichtbar. Wer sich für eine Aufgabe nicht einbuchen kann, erkennt, welche Schulungen ihm fehlen. »So werden Mitarbeitende noch qualifizierter – ein Gewinn für beide Seiten«, sagt Kienzler.
AgileAssembly ist breit aufgestellt: Neben dem Fraunhofer IAO wirken das Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement IAT der Uni Stuttgart, das Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen, neun Unternehmen, die IG Metall, Südwestmetall sowie die Association for Service Management International mit. Im Zentrum stehen die späten Phasen der Produktentstehung – Endmontage, Installation, Service. Dort ist der Druck am größten, dort entscheidet sich Wettbewerbsfähigkeit. Erdem Gelec fasst zusammen: »Wir wollen zeigen, dass agile Prinzipien auch in der Fabrikhalle funktionieren.«
Während in Villingen-Schwenningen Schichten geplant werden, geht es in Erfurt um Störungsmanagement. In der Fabrikationshalle von Qundis, einem Hersteller von elektronischen Wasser- und Wärmezählern, werden Tag und Nacht Bauteile montiert. Wenn plötzlich eine Maschine stoppt, hätte das früher bedeutet: Zettel schreiben, Meister suchen, Excel-Liste pflegen. Minuten, manchmal Stunden gingen verloren. Heute greift eine Mitarbeiterin zum Tablet. Sie tippt den Arbeitsplatz an, das System zeigt Störungen an und schlägt Lösungen vor. Ein Blick in die Wissensdatenbank – bebilderte Anleitung, kurzer Clip –, und sie kann den Fehler selbst beheben. Die Linie läuft weiter. Qundis entwickelt derzeit eine neue Version seiner Plattform, bei der erstmals eine KI-Anwendung gezielt in die Wissensdatenbank integriert wird.
»Früher sind viele Informationen einfach verpufft«, erzählt Maximilian Rosenow, Teamleiter im Bereich Heizkostenverteiler. »Von der Nachtschicht zur Frühschicht gingen Zettel verloren, am Ende wusste niemand genau, was eigentlich passiert war.« Auch seine Kollegin Michaela Nachsel kennt das Problem: »Wenn in der Mitte meiner Linie ein Schrauber ausfällt, steht alles still. Früher musste ich das erst in verschiedene Datenbanken eintragen und dann überlegen, welchen Techniker ich losschicke. Heute reicht ein Blick ins Tablet.« Mitarbeitende können dort Dokumente, Fotos und Videos hochladen. So entsteht ein lebendiges Nachschlagewerk, das alle nutzen.
Für die Beschäftigten bedeutet das: Sie können Probleme sofort lösen, statt stundenlang auf Techniker zu warten. Wenn in der Nachtschicht der Filter der Lötrauchabsaugung voll ist, muss man nicht auf den Monteur am nächsten Morgen warten, sondern kann ihn selbst austauschen und weiterarbeiten. Für das Unternehmen bedeutet es: weniger Stillstand, mehr Output, höhere Kundenzufriedenheit.
Die neue Arbeitsweise verändert die Kultur. Teamleiter Rosenow sagt: »Früher hat jeder sein eigenes Süppchen gekocht – Hauptsache, meine Schicht läuft. Heute schauen wir gemeinsam, wo es hakt.« Tägliche Teamleiterrunden um 7.30 Uhr bringen Transparenz: Wer hat Kapazitäten, wo gibt es Engpässe? In wenigen Minuten sind alle auf Stand. »Das hat unser Wir-Gefühl enorm gestärkt«, sagt Nachsel. »Wir arbeiten nicht mehr gegeneinander, sondern für Qundis.«
Auch Jobrotation wird gezielt gefördert: Mitarbeitende wechseln zwischen Teams, bauen zusätzliche Qualifikationen auf. »Das macht uns flexibler, und die Leute spüren den Mehrwert direkt«, erklärt Sven Heuke, Bereichsleiter Produktion. Das Projekt läuft noch in zwei Teams, soll aber bald auf alle fünf ausgeweitet werden. Erdem Gelec sieht darin ein Beispiel für die Kraft agiler Prinzipien: »Das Unternehmen wird flexibler, beweglicher und somit effizienter.«
Zurück in der Halle von IMS Gear. Dort läuft der Monteur Matijas Popic zur Werkbank, an der er heute arbeitet. Er schnappt sich einen Flansch, klebt einen Dichtring darauf, presst das Kugellager hinein und montiert schließlich das Getriebe. Eine gute Arbeit, für diese Woche. Und nächste? Mal sehen, wofür er sich dann einträgt.
Autor: Joshua Kocher