Fahrradmobilität gewinnt in der urbanen Mobilität zunehmend an Bedeutung und hat nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie und die Möglichkeiten von elektrifizierten Fahrrädern zusätzlich an Relevanz erfahren. Das E-Fahrrad stellt einen wichtigen Technologieträger in der Erprobung von Elektroantrieben und der digitalen Vernetzung in der Mobilität dar. Doch die Schattenseite dieses gesellschaftlichen Trends zeigt sich in den Unfallstatistiken: Im Jahr 2019 ist die Zahl der verunglückten Radfahrenden gegenüber dem Jahr 2010 um ca. 33 Prozent gestiegen. Zusätzlich konkurrieren Fahrräder mit dem motorisierten Individualverkehr (MIV) um Verkehrsfläche. All diese Faktoren – zusammen mit dem subjektiven Sicherheitsempfinden – stehen einer Verlagerung des MIV auf den (E-)Radverkehr entgegen. Auch der Zustand von Fahrrad- bzw. Straßeninfrastruktur sowie witterungsbedingte Einflüsse wie Luftqualität oder Niederschlag hemmen das Verlagerungspotenzial. Um genauere Aussagen zu möglichen Einflüssen auf die Fahrradsicherheit und den Mobilitätskomfort beim Fahren treffen zu können, wurde das Verbundprojekt ESSEM initiiert. Innerhalb der 36-monaten Projektlaufzeit erprobt das For-schungskonsortium aus Wissenschaft, Industrie und Städten Technologien zur Erhebung und Auswertung von umfeld- und personenbezogenen Daten wie etwa der Hauttemperatur oder der Herzfrequenz, so genannten Emotion-Sensing-Daten. Das Vorhaben wird vom Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement IAT der Universität Stuttgart sowohl organisatorisch als auch inhaltlich koordiniert, das eng mit dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO kooperiert.
Nutzendenzentrierte Angebote für die datengestützte Radverkehrsplanung
Zur Erhebung der Daten werden zunächst jeweils ca. 50 freiwillige Proband*innen in den Untersuchungsstädten Osnabrück und Ludwigsburg mit einer entsprechenden, körpernahen Sensorik ausgestattet. Ein Teil der aus den erhobenen Daten gewonnenen Erkenntnisse wird in die Optimierung und Entwicklung von nutzendenzentrierten Produkten und Services im Kontext Fahrradmobilität (z.B. Navigation, Sensorik, Fahrradkomponenten) einfließen. Dabei steht die Frage im Vordergrund, inwieweit eine auf das persönliche Sicherheitsempfinden angepasste Fahrradnavigation relevant und umsetzbar ist. Im Zuge dieser Vorhaben soll ein Innovationsnetzwerk über das Projekt hinaus etabliert werden. »Ein zentrales Projektanliegen besteht darin, die Erkenntnisse des Projekts auch für Außenstehende greifbar und nutzbar zu machen, indem innerhalb des Innovationsnetzwerks weitere Anwendungsfelder erschlossen werden«, so Steffen Bengel, Projektkoordinator am IAT der Universität Stuttgart.
Der zweite zentrale Projektaspekt liegt darin, herauszufinden, in welchem Umfang städtische Radinfrastrukturen und das Verkehrsmanagement Einfluss auf das Sicherheitsempfinden und den Mobilitätskomfort von Radfahrenden in den beiden Untersuchungsstädten besitzen. Das Forschungsteam will her-ausfinden, welche Situationen und Straßenmerkmale als Gefahrenstellen identifiziert werden können und inwieweit veränderte Rahmenbedingungen (z. B. Straßenführung) Veränderungen des individuellen Sicherheits- und Mobilitätskomfortempfinden bewirken. Als Projektergebnis soll u.a. ein praxistaug-liches Instrument zur Überprüfung von Infrastrukturen unter Integration von Emotion-Sensing-Daten entstehen.
Breites Konsortium will Datengrundlage im Bereich Fahrradmobilität erweitern
Das im Januar 2022 gestartete Projekt wird im Rahmen der Förderrichtlinie Modernitätsfonds (mFUND) über eine Laufzeit von 36 Monaten mit insgesamt ca. 1,65 Millionen Euro durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) gefördert. Wissenschaftliche Unterstützung erhält das IAT der Universität Stuttgart durch die Stadtquartiersplanung des Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und dem Fachbereich Geoinformatik der Paris Lodron Universität Salzburg (PLUS). Auf der Anwenderseite wird das Projektkonsortium um die Unternehmen Porsche Digital GmbH, Bike Citizens Mobile Solutions GmbH, User Interface Design GmbH sowie dem Verein Allgemeiner Deutscher Fahrradclub e.V. (ADFC) ergänzt. Abgerundet wird das Konsortium durch die Stadt Osnabrück, wo der Hauptanteil an Erhebungen durchgeführt werden soll. Weitere Erhebungen sind in der Stadt Ludwigsburg geplant, die das Projekt mit ihrer Expertise sowie Feldzugängen unterstützen wird.
Die zentralen Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem Projekt bezüglich der Nutzung von Emotion-Sensing-Daten für die Optimierung der Fahrradmobilität werden in einem Handlungsleitfaden festgehalten. Somit trägt das Projekt ESSEM dazu bei, die Datengrundlage im Bereich Fahrradmobilität zu erweitern und somit das Fahrrad als zentralen Träger nachhaltiger Mobilität in deutschen Städten weiter zu fördern.