Organisatorischer Neustart
Starre Stellenprofile waren gestern: Bei Roche in Ludwigsburg übernehmen Mitarbeitende in der Produktion ganz unterschiedliche Aufgaben. Die neue Flexibilität hilft, auf ein volatiles Marktumfeld zu reagieren.
In der neuen Fabrik von Roche Diagnostics Automation Solutions in Ludwigsburg stellen Mechatronikerinnen und andere Fachkräfte Maschinen her, die maßgeblich dazu beitragen, Laborergebnisse für Patientinnen und Patienten so zuverlässig und schnell zugänglich wie möglich zu machen. Die Hightech-Geräte sind groß wie Kleiderschränke – und in ihrem Inneren laufen Prozesse ab, für die man früher ein ganzes Medizinlabor brauchte. Für die moderne Medizin bedeuten solche Instrumente zur Laborautomatisierung vor allem eine enorme Ersparnis an Zeit. Zeit, die helfen kann, Leid zu lindern.
Die Roche-Fabrik leistet aber nicht nur medizintechnisch gesehen Pionierarbeit. Auch arbeitsorganisatorisch geht man in Ludwigsburg neue Wege. Im Rahmen eines Projekts, das Roche gemeinsam mit dem Fraunhofer IAO umgesetzt hat, sind die Stellenprofile hier neuerdings äußerst flexibel angelegt. Mitarbeitende haben nicht nur eine Rolle inne, sondern mehrere parallel. Die Rollenprofile sind nicht starr, sondern flexibel – und sie können durch die Teams selbst stets verändert werden. Ein so hohes Maß an Selbstorganisation ist in der Produktion eher unüblich.
Um zu verstehen, warum das so ist, lohnt es sich, einen Blick in die Roche-Produktionsstätte zu werfen: Hier, wo die Instrumente zur Laborautomatisierung, wie die Geräte offiziell heißen, gefertigt werden, besteht die Welt aus einer hochgradig reglementierten Kaskade von Einzelschritten: Zahllose Module müssen erst geprüft, dann zusammengebaut und anschließend wieder getestet werden. Nach ihrer Installation in die Maschine wird erneut getestet. Jeder Arbeitsschritt wird akribisch dokumentiert. »Wir haben es hier mir Geräten zu tun, die zu 100 Prozent funktionieren müssen«, sagt Petra Holland, Change Managerin bei Roche Diagnostics Automation Solutions. »Deshalb gelten extrem strenge Vorschriften der Qualitätssicherung in der Produktion.«
Früher mündete das in einer funktionalen Aufteilung der Arbeit in vier verschiedene Bereiche: Baugruppenmontage, Modulmontage, Zusammenbau und Inbetriebnahme. Die Folge: Die einzelnen Teams waren zwar hochspezialisiert, wussten aber nur wenig über die Gesamtzusammenhänge der hochkomplexen Produkte und über die Arbeit der anderen Teams. Organisatorische und administrative Aufgaben übernahmen einige wenige Führungskräfte. »Unser Ziel war es, diese Starrheit aufzubrechen und selbstorganisierte Teamarbeit zu etablieren«, sagt Petra Holland. In einem ersten Schritt wurden die Bereiche neu strukturiert, statt vier gibt es jetzt nur noch zwei: »Assembly to Stock« und »Assembly to Order«. Parallel dazu wurden zusätzliche kleine Teams gebildet, die für die jeweiligen Produktlinien verantwortlich sind und über tiefes Wissen über die Produkte verfügen. Hinzu kommt: Die Zuweisung der Rollen läuft heute weniger hierarchisch ab. Die Mitarbeitenden haben, entlang ihrer Qualifikationen, die Möglichkeit, sich selbst zu organisieren. Diese Möglichkeit für den organisatorischen Neustart bot sich im Jahr 2022, als Roche Diagnostics Automation Solutions an einen neuen Standort in Ludwigsburg umzog. Zuvor hatte das Unternehmen viele Jahre lang in einem Werk in Remseck-Aldingen produziert. Der Produktionsprozess ähnelte dort einer Manufaktur, und viele Prozesse hatten sich im Laufe der Jahre eingeschliffen. »Der Umzug war der ideale Zeitpunkt für einen grundlegenden Wandel«, sagt Petra Holland. Die wissenschaftliche Begleitung des Prozesses sollte das Fraunhofer IAO übernehmen.
»Unsere Stärke liegt in der Transformation von Produktionssystemen – und deren Ausrichtung auf eine kundenorientierte Wertschöpfung«, sagt Erdem Gelec. Der Leiter des Bereichs »Vernetzte Produktionssysteme« beim Fraunhofer IAO hat Roche Diagnostics Automation Solutions bei der Einführung neuer Zusammenarbeitsmodelle begleitet. In einem ersten Schritt hat Gelecs Team die Prozesse im Unternehmen analysiert. Im Anschluss wurden die Mitarbeitenden zu einer ganzen Reihe von Teamtreffen und Kreativrunden eingeladen, in denen über die Chancen und Herausforderungen der neuen, flexiblen Arbeitsweise gesprochen wurde. An diesem Prozess nahm etwa ein Drittel der Belegschaft teil, die übrigen wurden von ihren Kolleginnen und Kollegen über den Stand der Planungen informiert. »Die Herausforderung für uns bestand darin, die Produktion im laufenden Tagesgeschäft Stück für Stück neu zu organisieren.« Für Petra Holland hat sich die Kooperation mit dem Fraunhofer IAO gelohnt: »Die Tatsache, dass der ganze Prozess transparent und partizipativ gestaltet war, war die Grundlage dafür, dass die Mitarbeitenden die Veränderungen heute mittragen.«
Die Gründe für Roches Suche nach mehr Selbstorganisation sind vielfältig. Da ist zum einen der Wunsch nach einer Unternehmenskultur, die der Belegschaft mehr Selbstbestimmung ermöglicht – und dem Einzelnen mehr Verantwortung zutraut. »Im Ringen um Fachkräfte stellen diese Faktoren einen Vorteil für Arbeitgebende dar«, sagt Petra Holland.
Neben dem kulturellen gibt es aber auch noch einen wirtschaftlichen Aspekt: Medizintechnikunternehmen wie Roche Diagnostics Automation Solutions agieren in einem extrem volatilen Markt. Gewinnt ein Unternehmen beispielsweise ein großes Ausschreibungsverfahren, muss die Produktion zeitnah und flexibel reagieren. Teams werden neu organisiert und temporär aufgestockt oder reduziert, die Arbeitsplanung der ganzen Fabrik passt sich der neuen Situation an.
Der Grund dafür liegt in der verstärkten Kommunikation und dem tieferen Wissen aller um den Gesamtprozess im Zuge der Neuorganisation. »In dem Moment, wo die Teammitglieder über dieses Wissen um den ganzen Prozess verfügen und selbständig Verantwortung für einen optimalen Prozess übernehmen, können sie proaktiv reagieren und Effizienzen generieren«, sagt Erdem Gelec.
»Wenn eine Auftragsspitze nach Reorganisation verlangt, sprechen die Leute jetzt miteinander – und suchen gemeinsam nach tragfähigen Lösungen.« Petra Holland formuliert es so: »Unsere Mitarbeitenden sind die wahren Expertinnen und Experten. Sie wissen am besten, wie sich die Arbeit am effizientesten erledigen lässt.«