Autonomes Fahren
Noch gibt es den vollständig automatisierten Wagen nicht, doch Forschende des Fraunhofer IAO und des IAT der Universität Stuttgart arbeiten intensiv daran, diese Vision voranzutreiben. Ihr Hauptwerkzeug: das Wizard-of-Oz-Fahrzeug. Einblicke hinter die Kulissen der Forschung und in die Zukunft des Fahrens.
Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein normaler Kastenwagen: mittelgroß, dunkelblau, mit Schiebetür und einer großzügigen Ladefläche zum Transport von Waren, Paketen, Werkzeug. Doch schaut man genauer hin, lässt sich erkennen, dass dieses Fahrzeug kein gewöhnliches ist. Mit je zwei Lenkrädern und Rückspiegeln im vorderen Teil wirkt es eher wie ein Fahrschulauto. Sogar Gaspedal und Bremse sind auf beiden Seiten vorhanden. Hinzu kommt im hinteren Teil des Wagens sogar noch ein dritter, vollständig ausgestatteter Fahrersitz, den Nicht-Eingeweihte aber erst einmal nicht zu sehen bekommen.
Weder die Zweit- noch die Drittausstattung sind jedoch für Lehrkräfte gedacht. Der Wagen ist ein sogenanntes Wizard-of-Oz-Fahrzeug und im Auftrag der Forschung unterwegs. »Für uns ist es das ideale ›fahrende Labor‹, um automatisiertes Fahren im Realverkehr sicher zu erproben«, sagt Lesley-Ann Mathis, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fraunhofer IAO.
Der Begriff geht auf das berühmte Kinderbuch »Der Zauberer von Oz« von Lyman Frank Baum zurück, in dem ein vermeintlicher Zauberer hinter einem Vorhang agiert und damit die Illusion erzeugt, er habe übernatürliche Kräfte. In der Wissenschaft bezeichnet die Wizard-of-Oz-Methode einen ähnlichen Ansatz (siehe Kasten): Im Rahmen eines Experiments simulieren Forschende die Funktion einer Technologie, um die Reaktionen der Testpersonen darauf zu erfassen. In Studien zum automatisierten Fahren etwa glauben Probandinnen und Probanden, in einem selbstfahrenden Auto zu sitzen, während in Wirklichkeit ein Mensch, der hinter einer Trennwand im Laderaum versteckt ist, den Wagen steuert – das erfahren sie aber erst nach der Testfahrt.
Die Wizard-of-Oz-Methode
Ursprünglich kommt die Wizard-of-Oz-Methode aus der Informatik. Der Amerikaner John F. Kelley, ein Vordenker aus dem Bereich User Experience und User Research, prägte den Begriff in den 80er-Jahren. Die Technik wurde eingesetzt, um Mensch-Computer-Interaktionen zu untersuchen. Dabei simulierte ein Testleiter, der »Zauberer«, ein vermeintlich intelligentes System: Teilnehmende dachten, sie kommunizierten mit der Maschine, dabei kamen die Antworten vom Menschen. Das Ziel war, zu beobachten und zu analysieren, wie Probandinnen und Probanden reagieren, oft im Rahmen von Tests zu Benutzerfreundlichkeit oder Systemdesign. In der Sprachwissenschaft und Kognitionsforschung kam die Methode ebenfalls zum Einsatz. Später übertrugen Wissenschaftler die Prinzipien auf die Erforschung der Ergonomie von Spracherkennung und -ausgabe im Fahrzeug.
»Dieses Vorgehen ermöglicht es, das automatisierte Fahren und bestimmte Funktionen darin so realitätsnah wie möglich erlebbar zu machen, ohne Passagiere echten Risiken auszusetzen«, sagt Mathis. Diese daraus gewonnenen Daten und Erkenntnisse helfen, die Technologie weiterzuentwickeln und sie auf die Bedürfnisse der Menschen abzustimmen. Denn noch sind autonom fahrende Autos eine Zukunftsvision – bis sie das Straßenbild prägen, wird es noch einige Zeit dauern. Der Trend zu mehr Automatisierung in der Automobilbranche ist jedoch klar erkennbar, schon heute gibt es Assistenzfunktionen und Teilautomatisierungen. Das Wizard-of-Oz-Prinzip hilft somit, eine wichtige Lücke zu schließen. Und das Wizard-of-Oz-Fahrzeug ist das passende Werkzeug dafür.
Wie das in der Praxis aussieht, zeigte sich im Verbundprojekt »KARLI«, das vom 1. Juli 2021 bis zum 30. September 2024 lief. »KARLI« steht für »Künstliche Intelligenz für adaptive, responsive und levelkonforme Interaktion im Fahrzeug der Zukunft«. An dem Projekt waren zwölf Partner beteiligt, darunter Continental, Ford und Audi, und es wurde vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz gefördert. Ziel des Projekts war, KI-Anwendungen zu entwickeln, die das automatisierte Fahren sicherer und nutzerfreundlicher machen. Fahrerinnen oder Fahrer sollten in jeder Automatisierungsstufe nach SAE (siehe Tabelle) genau wissen, was zu tun ist, denn je nach Stufe verändern sich ihre Aufgaben.
Im Fokus des Projekts standen drei KI-Anwendungen für die Automatisierungsstufen 2 bis 4. Eine konzentrierte sich auf das Thema levelkonformes Fahren. Dabei ging es um den Übergang zwischen den einzelnen Leveln, also den Wechsel von einer aktiven zu einer passiven Rolle oder umgekehrt. Ein Beispiel: Der Fahrende liest ein Buch und soll die Steuerung des Autos wieder übernehmen. Wie lässt sich dieser Übergang gestalten, dass er intuitiv erfolgt und sicher ist? Eine weitere Applikation beschäftigte sich mit der Frage, wie die Kommunikation mit der KI im Fahrzeug allgemein gestaltet werden sollte. In welcher Form sollte sie sichtbar gemacht werden? Was trägt dazu bei, Vertrauen aufzubauen? Eine dritte widmete sich dem Thema »Motion Sickness erkennen und vermeiden« und der Frage, wie KI-Systeme Symptome von Reisekrankheit erkennen und möglicherweise vorbeugen können.
Für uns ist es das ideale ›fahrende Labor‹, um automatisiertes Fahren im Realverkehr sicher zu erproben.«
Lesley-Ann Mathis, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team »Ergonomics and Vehicle Interaction« am Fraunhofer IAO
Forschende des Fraunhofer IAO und des IAT der Universität Stuttgart übernahmen die Themenschwerpunkte »Datensammlung im Realverkehr für das Training von KI im Fahrzeug«, »Einfluss von Motion Sickness auf die Fahrtüchtigkeit« und »Untersuchung von proaktiven Systemansprachen unter realen Bedingungen«. Das Wizard-of-Oz-Fahrzeug erwies sich in allen drei Bereichen als sehr hilfreich. »Es war ein großer Vorteil, dass wir im echten Verkehr testen konnten«, erklärt Daniela Vial, wissenschaftliche Mitarbeiterin am IAT, die wie Mathis an den Studien beteiligt war und die Funktion einer Sicherheitsfahrerin übernahm. Die Strecke von Stuttgart nach Pforzheim und zurück, rund 70 Kilometer Landstraße und Autobahn, bot realitätsnahe Bedingungen. »Automatisiertes Fahren lässt sich auch in einem Fahrsimulator nachstellen, aber dort ist die Fahrstrecke nur eine Projektion, und der Wagen bewegt sich nicht«, so Vial. Im realen Verkehr konnten auch Fragen zur Sicherheit oder Akzeptanz bestimmter Funktionen besser beantwortet werden, was zu präziseren Ergebnissen führt. »Auch für das Training von KI-Anwendungen sind reale Daten aussagekräftiger«, ergänzt Mathis. »In einer VR-Umgebung oder im Fahrsimulator weiß der Proband, dass er sich im Labor befindet. Die dort gewonnenen Kameradaten sind weniger geeignet, um die Algorithmen zu trainieren.«
Damit das Wizard-of-Oz-Fahrzeug diese Funktionalitäten erfüllen konnte, musste es umfangreich umgestaltet werden. Rund anderthalb Jahre dauerte es, das Fahrzeug auf die Anforderungen des »KARLI«-Projekts abzustimmen. Dazu gehörte der Einbau von Hard- und Software, um die Studien durchzuführen und Daten für die KI-Anwendungen zu erheben.
Im Wagen wurden zahlreiche mechanische Komponenten integriert, darunter verschiedene Innenraumkameras, welche die Aktivitäten der Insassen überwachen, und ein Eye-Tracker, der die Blickbewegungen der Probandinnen und Probanden erfasst. Auch fahrspezifische Daten wie das Lenk- oder Bremsverhalten wurden aufgezeichnet, da sie für Übergabesituationen relevant sind. Zusätzlich wurden über Wearables physiologische Daten wie Stress oder Nervosität erfasst, um das Wohlbefinden der Probandinnen und Probanden zu messen.
»Der wichtigste Punkt war aber, dass wir die Übergaben zwischen automatisiertem und manuellem Fahren während der Fahrt durchführen konnten, ohne dafür anhalten zu müssen«, erklärt Vial. In der Studie konnte das zum Beispiel so aussehen, dass das System dem Probanden meldete, er solle die Steuerung übernehmen, weil eine Baustelle bevorstand. Deswegen das eigene Lenkrad. Die Sicherheitsfahrerin beziehungsweise der Sicherheitsfahrer hatte ebenfalls eins, um »im Notfall« eingreifen zu können, falls »das System« nicht schnell genug reagierte.
Die fünf Level des automatisierten Fahrens
Von assistiert bis vollautomatisiert: Die gemeinnützige US-Organisation Society of Automotive Engineers (SAE, Verband der Automobilingenieure) brachte 2014 die Norm SAE J3016 heraus, in der sie fünf Stufen des autonomen Fahrens definierte. Damit wurde für jede Stufe geregelt, welche Rolle die fahrende Person im Auto einnimmt und welche Aufgaben das Fahrzeug übernehmen kann. Eine Übersicht:
Level | Bezeichnung | Aufgaben des Fahrers |
0 | Keine Automatisierung | Die Fahrerin oder der Fahrer übernimmt alle Aufgaben im Wagen und trifft alle Entscheidungen. |
1 | Fahrerassistenz | Die Fahrerin oder der Fahrer steuert den Wagen zu jeder Zeit selbst, kann in einigen Bereichen aber unterstützt werden (etwa Tempomat oder Spurhalteassistent). |
2 | Teilautomatisierung | Das Fahrzeug kann einige Aufgaben übernehmen, etwa Spur halten, bremsen, beschleunigen. Die Fahrerin oder der Fahrer muss jedoch stets den Verkehr im Blick behalten und jederzeit bereit sein, die Kontrolle wieder zu übernehmen. |
3 | Bedingte Automatisierung | In bestimmten Situationen kann das Fahrzeug autonom fahren, sodass die Fahrerin oder der Fahrer sich vom Verkehr abwenden kann. Sie oder er muss aber bereit sein, nach Aufforderung die Kontrolle wieder zu übernehmen. |
4 | Hochautomatisierung | Das Fahrzeug kann autonom fahren, aber nur in bestimmten Situationen oder Umgebungen. Das menschliche Eingreifen kann mitunter nötig sein. |
5 | Vollautomatisierung | Keine. Das System übernimmt alle Fahraufgaben. Menschliches Eingreifen ist nicht mehr nötig. |
»Einmal hatten wir so einen Fall«, sagt Mathis. »Wir fuhren um eine Kurve und sahen Enten auf der Straße stehen. Der Wizard hatte sie nicht rechtzeitig erkannt. Also musste der Sicherheitsfahrer eingreifen, und der Wagen stand erst einmal.« Solche Szenarien hatten die Forschenden vorher eingeübt und abgesprochen, wie sie wann reagieren, um stets eine sichere Fahrt zu gewährleisten.
Auf die Enthüllung, dass sie nicht wirklich in einem autonom fahrenden Auto gesessen hatten, reagierten die Teilnehmenden sehr unterschiedlich: Viele waren überrascht, einige interessiert, manche auch etwas enttäuscht. Insgesamt hatten sie sich aber alle auf die Möglichkeit, zwischendurch mal das Lenkrad loszulassen, ein Buch zu lesen oder sich entspannt zurückzulehnen und gefahren zu werden, eingelassen. Viele Teilnehmende waren sich einig, dass sie diese Art des Reisens gerade beim täglichen Pendeln zur Arbeit oder bei einer langen Fahrt in den Urlaub sehr schätzen würden.
Weitere Studien mit dem Wizard-of-Oz-Fahrzeug sind in Vorbereitung. Im Mittelpunkt stehen die Weiterentwicklung von KI-basierter Interaktion und die multimodale Erfassung des Innenraumkontextes. Schließlich ist das Thema hochaktuell und entwickelt sich stetig weiter. »Besonders der Trend um Generative KI und Sprachmodelle eröffnet viele neue Möglichkeiten, intuitive Interaktionskonzepte für den Menschen zu entwickeln und deren Anwendung im Fahrzeug iterativ zu verbessern und robuster zu machen«, sagt Mathis. Der Wagen steht jedenfalls bereit.