Im Gespräch
KI, Energiewende, globaler Wettbewerb: Die deutsche Industrie steht unter einem massiven Transformationsdruck. Dr. Moritz Hämmerle und Katharina Hochfeld vom Fraunhofer IAO über die Frage, wie unternehmerische Veränderung gelingt.
Frau Hochfeld, wo man auch hinsieht in Wirtschaft und Industrie, ist von Transformation die Rede. Man könnte meinen, hier ist ein neuer Hype entstanden.
Katharina Hochfeld: Der Begriff Transformation wird tatsächlich inflationär benutzt. Und zwar auch für Veränderungsprozesse, die dieses Etikett zu Unrecht tragen. Dennoch ist die Debatte um Transformation weit mehr als ein Hype, weil Unternehmen weltweit unter einem sehr realen und gewaltigen Veränderungsdruck stehen. Um zu verstehen, warum das so ist, muss man sich nur mal in der Welt umsehen. Wir erleben derzeit zahlreiche Umbrüche gleichzeitig. Künstliche Intelligenz revolutioniert die Art, wie wir Daten verarbeiten. Die globale Erwärmung zwingt uns, ganze Industrien zu dekarbonisieren. Nachhaltigkeitsregularien wirken sich auf die Art, wie wir wirtschaften, aus. Hinzu kommen Kriege oder Krisen wie die neue Zollpolitik der USA. Und der demografische Wandel: In vielen Unternehmen gehen in den kommenden fünf Jahren etwa 30 Prozent der Beschäftigten in Rente. Das bedeutet einen unheimlichen Verlust an Know-how, dem Unternehmen mit einem intelligenten Wissensmanagement begegnen müssen. Und dann sind da noch die Kundinnen und Kunden, die unter all diesen Rahmenbedingungen andere Wünsche formulieren. All das passiert gleichzeitig – und zwingt Unternehmen zur Transformation.
Herr Hämmerle, wie würden Sie Transformation in diesem Kontext definieren?
Moritz Hämmerle: Spätestens wenn die Art und Weise, wie ein Unternehmen in der Vergangenheit Wertschöpfung betrieben hat, nicht mehr funktioniert, ist es Zeit für eine Transformation. Nicht zu verwechseln mit einem kleinen Change-Prozess, um die Effizienz ein wenig zu steigern. Gefragt ist vielmehr ein fundamentaler Wandel, eine neue Art der Wertschöpfung muss entwickelt werden, das Unternehmen muss seine Leistungsfähigkeit im Grunde neu erfinden. Ein solches Vorhaben wirkt sich auf Produkte, Prozesse, Märkte, Geschäftsmodelle – und natürlich auch auf Mitarbeitende und die von ihnen geforderten Kompetenzen aus. Insbesondere die Art und Weise, wie all das zusammenspielt, muss neu orchestriert werden – nicht nur im eigenen Unternehmen, sondern auch innerhalb des Wertschöpfungsökosystems. Der Begriff Transformation beschreibt diese tiefgreifende Veränderung.
Können Sie ein Beispiel für eine gelungene Transformation nennen?
Moritz Hämmerle: Ein gutes Beispiel ist die Nagel Technologies GmbH aus Nürtingen. Das Unternehmen, mit 1200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein klassischer Mittelständler, stellt Honmaschinen her, die man braucht, um Stahl mit extrem präzisen Oberflächen zu produzieren. Die Laufflächen im Inneren der Zylinder von Verbrennungsmotoren werden mit solchen Maschinen gemacht. Ihre Oberflächen müssen absolut glatt sein, damit sie maximal effizient arbeiten. Nun stellen solche Zylinder im Zuge des Umstiegs auf Elektromobilität natürlich ein Auslaufmodell dar. Also hat Nagel sich nach neuen Anwendungsfeldern für seine Kernkompetenz, die Beschichtungstechnik, umgesehen. Und wurde fündig: Bremsscheiben für Autos. Die müssen mit Lasertechnologie beschichtet werden, damit die Fahrzeuge die Feinstaubwerte der Euro-7-Norm einhalten. Damit kennt Nagel sich aus. Also hat das Unternehmen umgerüstet und baut heute Maschinen, mit denen man diese Bremsscheiben beschichtet. Das Unternehmen produziert also weiter für die Automobilbranche, ist aber unabhängig von der Antriebstechnologie geworden. Transformationsprozesse können aber auch ganz anders aussehen. Ein Maschinenbauer könnte zum Plattformanbieter werden. Oder auf Automatisierungslösungen setzen. Oder sich auf Service konzentrieren. Vielleicht eröffnet auch eine neue Zielbranche die Lösung – Greentech zum Beispiel bietet viele neue Möglichkeiten. Es gibt zahlreiche Optionen, in Märkten, die sich rasant verändern, neue Wertschöpfung zu entwickeln.
Katharina Hochfeld: Ein gutes Beispiel ist auch der Outdoor-Ausrüster Vaude, der vor einigen Jahren beschlossen hat, Deutschlands nachhaltigstes Unternehmen zu werden. Die Inhaber wollten das unbedingt – und sie haben wirklich daran geglaubt, dass sie damit Erfolg haben werden. Also sind sie über all die Jahre am Ball geblieben, auch gegen Widerstände. Wir haben Vaude kürzlich als eines von zehn Unternehmen, die Transformationsprozesse angestoßen haben, untersucht und konnten sehen: Die Strategie ist aufgegangen. Das Unternehmen wird mit Nachhaltigkeitspreisen überhäuft und von den Kundinnen und Kunden für seine klare Positionierung belohnt.
Warum fällt es vielen Unternehmen schwer, solche Erfolgsgeschichten zu schreiben?
Moritz Hämmerle: Ein Transformationsprozess bringt Unsicherheiten mit sich. Als Manager springt man da gewissermaßen über eine Klippe ins Ungewisse. Das ist mit einem Risiko verbunden – und dennoch muss man eine Vision formulieren, eine Strategie entwickeln und sich eine gewisse Resilienz zulegen. Denn in der Regel braucht es eine Weile, bis Transformationserfolge sichtbar werden. Das heißt, man muss eine Zeit lang durchhalten – und das geht nur, wenn das Unternehmen aus der tiefen Überzeugung handelt, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist. Bei der Nagel Technologies GmbH hat es drei Jahre gedauert, bis das neue Geschäft auf dem Niveau des alten funktioniert hat. Dass das Unternehmen das geschafft hat, lag auch daran, dass man einen Geschäftsführer eigens für das neue Geschäft eingesetzt hat. Dessen Hauptaufgabe war es, sich nur darum zu kümmern. Und er musste sich nicht an den Zahlen des Tagesgeschäfts messen lassen. Für den Erfolg ist diese Freiheit zentral, weil sie es einem Manager ermöglicht, Kurs zu halten, auch wenn der Erfolg sich nicht über Nacht einstellt.
Ist Transformation also eine Frage des Durchhaltevermögens?
Moritz Hämmerle: Wenn sie einmal auf den Weg gebracht ist: ja. Zunächst einmal ist es aber eine Frage der Risikobereitschaft – und die fehlt vielerorts. Gerade deutsche Unternehmen haben wenig Erfahrung mit fundamentalen Veränderungen. Das liegt auch daran, dass wir jahrzehntelang wie unter einem Schutzschirm Wertschöpfung betrieben haben. Unsere Industrien verfügten lange Zeit über einen technischen Vorsprung und hohes Ansehen – und haben Innovation stets in linearen Logiken praktiziert. Der Verbrennungsmotor ist ein gutes Beispiel dafür: Den hat man über viele Jahre immer effizienter gemacht, also von zwölf Litern auf 100 Kilometer runter auf zehn, dann auf acht und so weiter. Man hat also etwas Bestehendes optimiert. Nun aber entstehen quasi über Nacht völlig neue Technologien, Märkte und Geschäftsmodelle, und Kunden verlangen plötzlich nach völlig anderen Produkten und Dienstleistungen. Hinzu kommt, dass eine internationale Konkurrenz herangewachsen ist, vor allem in China, die Produkte in vergleichbarer Qualität herstellen kann – zu Preisen, die wir nicht bieten können. Das heißt für uns: Der Schutzschirm ist weg. Wir müssen uns neu erfinden. Wir wissen aber nicht wirklich, wie das geht. Daraus ergibt sich ein Transformation-Leadership-Problem: Es fehlt an Führungsfiguren, die sich trauen, eine Vision zu formulieren und bei der Umsetzung klare Kante zu zeigen.
Katharina Hochfeld: Das hat auch damit zu tun, dass es in vielen Unternehmen noch an einer positiven Fehlerkultur mangelt. Es wird zwar immer viel über die Vorzüge des »Fail Fast« gesprochen, aber sobald jemand etwas Neues ausprobiert und es funktioniert nicht, werden oft reflexhaft Schuldige gesucht. Anstatt dass man gemeinsam überlegt, wie es weitergehen könnte. Das behindert Transformation, weil Fehler für Veränderungsprozesse extrem wichtig sind und eine gute Fehlerkultur nachweislich die Innovationsfähigkeit erhöht. Jeder Einzelne und die ganze Organisation können aus Fehlern lernen und an ihnen wachsen. Das ist aber nur möglich, wenn man nicht gleich die Reputation, die Glaubwürdigkeit oder gar den Job verliert, wenn die Strategie nicht aufgeht, eine Idee nicht fliegt oder die Ziele nicht erreicht werden. Die Gründe dafür liegen tief. Denn wenn man genau hinsieht, hat Transformation natürlich auch immer mit Machtverschiebung zu tun. Wenn ein Unternehmen sich neu aufstellt, verändern sich Funktionen und Rollen – und somit eben auch Machtverhältnisse. Das kann dazu führen, dass Mitarbeitende oder Führungskräfte Veränderung blockieren. Entweder aus der Angst, Gestaltungsmacht zu verlieren – oder weil sie sie tatsächlich verlieren. Das ist ein Problem, denn ein Transformationsprozess geht zwar von der Geschäftsführung aus, muss dann aber auf allen Ebenen des Unternehmens aktiv gelebt werden.
Sie begleiten Unternehmen bei der Transformation. Wie startet so ein Prozess?
Moritz Hämmerle: Ganz grundsätzlich gesprochen: Es geht darum, dass man die Anforderungen der neuen Kunden wirklich versteht. Das mag banal klingen. Tatsächlich fällt es vielen Unternehmen aber schwer, Innovation vom Kunden her zu denken. Die zentrale Frage muss lauten: Was hilft dem Kunden, und wie könnte ein Produkt dafür aussehen? Das ist eine völlig andere Art, Innovation zu gestalten, als viele Unternehmen, denen Kunden jahrelang genaueste Vorgaben für die Produktentwicklung gemacht haben, es gewohnt sind.
Katharina Hochfeld: Das erlebe ich auch so. Viele Unternehmen, die Veränderungen anstreben, rücken zunächst die eigenen Probleme und Prozesse in den Mittelpunkt. Unsere Aufgabe als Innovationspartner ist es dann, den Kunden, seine Anforderungen und Bedarfe ins Zentrum zu rücken und mit Innovationsprozessen wie Design-Thinking kundenzentrierte Lösungen zu entwickeln.
Worin besteht, kurz skizziert, die weitere Unterstützung durch das Fraunhofer IAO?
Moritz Hämmerle: Wir begreifen Transformation als 360-Grad-Aufgabe: Märkte müssen analysiert, Produkte entwickelt werden, in der produzierenden Industrie muss die Fabrik den neuen Anforderungen angepasst werden. Und dann gilt es, die perfekte Zusammenarbeit der Gesamtorganisation zu orchestrieren. Nur wenn alle Teile dieses gigantischen Puzzles ineinandergreifen, kann die Transformation erfolgreich sein. Die Frage ist also: Wie erreicht man diese Veränderung? Was muss sich im Einzelnen verändern, damit die Veränderung des großen Ganzen gelingt? Im Rahmen unserer Auftragsforschung entwickeln wir gemeinsam mit Unternehmen erfolgreiche Pfade durch die Transformation.
Katharina Hochfeld: Entscheidend für den Erfolg ist auch die Veränderungsbereitschaft der Mitarbeitenden. Wir schauen also genau hin, wie sich im Rahmen der Transformation Arbeitszufriedenheit, Motivation und Commitment erhalten oder neu herstellen lassen. Dabei geht es darum, Über- und Unterforderung zu vermeiden und Selbstwirksamkeit zu ermöglichen. So was können wir mithilfe von Befragungen sehr valide messen und im Zeitverlauf evaluieren.
Moritz Hämmerle: Wichtig ist, all das rechtzeitig zu tun. Dann handelt man nämlich nicht, wie beim Krisenmanagement, aus einer Position der Schwäche heraus. Im besten Fall schreitet man als Pionier voran und handelt so aus einer Position der Stärke heraus. Das für unsere Kunden zu erreichen, ist unser wichtigstes Ziel.
Im Video fassen sie zusammen, wie Unternehmen dem Transformationsdruck begegnen können.