Digitale Transformation
Das Center for Responsible Research and Innovation CeRRI des Fraunhofer IAO führt Unternehmen und Verwaltungen in die Zukunft. Auf den Spuren der neuen Digitalkultur.
Von außen betrachtet wirkt der Bau, in dem die Berliner Senatsverwaltung für Finanzen angesiedelt ist, wie ein Bollwerk der Unbeweglichkeit. Als er vor rund hundert Jahren am Spreeufer im Stadtteil Mitte errichtet wurde, galt er als modern. Heute stellt man sich ein Bürogebäude anders vor. Hinter der massiven grauen Fassade aber ist die Gegenwart längst angekommen. Im ersten Stock etwa findet sich ein Raum, der eher an eine Cafeteria erinnert als an eine Amtsstube: Tief hängende Vintage-Lampen schicken warmes Licht in Rostbraun auf einen Tresen, an dem – auf Barhockern – zwei Beamtinnen sitzen.
»Ich such den Link gleich raus«, murmelt die eine. »Hattest du heute auch Serverprobleme?«, fragt die andere und nascht Nüsse aus einer Schale. Ein paar Minuten und Klicks später geht die eine Kollegin zum Telefonieren in eine schalldichte Kabine an der Wand gegenüber und die andere nach Hause. »Das Paper für die Senatskanzlei schick ich dir per Mail«, ruft sie ihr noch in diesem Raum aus vier nüchtern-strengen Halbbögen nach, der so etwas wie die Keimzelle einer kleinen Revolution im Verwaltungswesen der Hauptstadt ist: Hier, in einem rund 100 Jahre alten Gebäude, soll die digitale Zukunft der Verwaltungswelt vorangetrieben werden.
Zwischen März 2019 und September 2023 wurde im Rahmen des Projekts »Arbeit x Anders« eine neue Arbeits- und Organisationskultur erprobt. Den Auftrag, die Senatsverwaltung bei der Arbeit an einer neuen »Digitalkultur« zu unterstützen, erhielt damals das Center for Responsible Research and Innovation CeRRI des Fraunhofer IAO. Das 2010 gegründete und in Berlin ansässige Zentrum berät und begleitet Unternehmen, Behörden und andere Institutionen, die Innovations- und Veränderungsprozesse umsetzen möchten. »Und hier reicht es eben nicht, eine neue Software einzuführen und die Mitarbeitenden im Umgang damit zu schulen«, sagt CeRRI-Leiterin Katharina Hochfeld. »Vielmehr muss eine neue Arbeitskultur geschaffen werden.« Wer die Potenziale technologischer Entwicklungen wirklich heben wolle, brauche Mitarbeitende, welche digitale Werkzeuge souverän nutzen und eigenständig datenbasierte Entscheidungen treffen. »Unser Ziel ist eine effiziente und gleichzeitig möglichst selbstbestimmte Arbeit«, so Hochfeld.
In diesem Fall entwickelte das CeRRI eine Reihe von Workshops, in denen Mitarbeitende über die Grenzen von Hierarchieebenen hinweg gemeinsam an der Frage arbeiten konnten, wie sich die täglichen Aufgaben – auch mithilfe neuer IT-Lösungen – in der Verwaltung besser meistern lassen. Zudem wurden klare Vereinbarungen darüber getroffen, wer welche Entscheidungen im Prozess treffen darf und muss. »Im Zuge dieses Prozesses wurden viele Mitarbeitende mit neuen Kompetenzen ausgestattet, was zu größerer Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit führte«, sagt Hochfeld.
Was das bedeutet, lässt sich heute, eineinhalb Jahre nach Projektende, in der Senatsverwaltung besichtigen. Statt kleiner Stuben mit Aktenschrank und Stempelkissen, in denen die Beamtinnen und Beamten verschwinden, dominieren die offenen Bereiche, in denen die Mitarbeitenden täglich aufs Neue wählen können, wo sie arbeiten möchten, digital transparent mithilfe eines Portals, an dem man sich an- und abmeldet. Überhaupt ist Arbeit in dieser Verwaltung nicht mehr an einen Ort gebunden: Homeoffice oder mobiles Arbeiten gehören zum Alltag.
»Es geht hier nicht nur um Kompetenz im Umgang mit den Tools«, sagt Ralf Meyer. Als Referatsleiter für Digitalisierung ist er dafür verantwortlich, dass der Wandel in der Senatsverwaltung gelingt. »Im Grunde geht es um effektives und selbstorganisiertes Arbeiten.« Meyer ist Diplomverwaltungswirt und seit 1986 bei der Landesverwaltung beschäftigt. Ab 2012 war er für den damals größten Digitalisierungssprung innerhalb der Behörden mit zuständig: die Einführung der elektronischen Aktenführung. »Schon damals merkten wir den enormen Nachholbedarf«, erinnert er sich. Sein Team wuchs, die Räumlichkeiten reichten irgendwann nicht mehr aus. »Ich bin ein schlechter Verwalter«, sagt Meyer, »wenn es um Gleichförmigkeit geht.«
Meyers aktuelle Aufgabe ist ungleich komplexer, weil es diesmal nicht mehr darum geht, ein Aktenmeer zu digitalisieren. »Diesmal geht es um die Frage, wie sich Transparenz, Schnelligkeit und Qualität sichern lassen. Es geht um ein neues Verständnis von Führung und Ort«, sagt Meyer. Kurz: Es geht um den Faktor Mensch. Die freie Platzwahl etwa bringe viele Vorteile mit sich – aber auch Herausforderungen. Denn wie in jedem Büro gibt es auch hier beliebte und weniger beliebte Plätze. Wenn es hier gerecht zugehen soll, müssen die Mitarbeitenden sich also untereinander absprechen – und abwechseln. »Allein das fördert die Kommunikation im Team und stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl«, sagt Meyer. Man könnte auch sagen: Entlang der Frage, wer wann den besten Spreeblick genießen darf, schulen die Mitarbeitenden ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation.
»Der Schlüssel zum Erfolg ist die Selbstwirksamkeit«, sagt Meyer und geht an einen der Schreibtische, die im offenen Bereich stehen. Auf einen Knopfdruck hin fährt die Arbeitsfläche nach oben. »Im Stehen tippe ich besser«, sagt Meyer. Ohne »psychologisches Empowerment«, sagt er, drohe jede technische Neuerung in der Anwendung zu verpuffen. »Unser Ziel ist es, dass Arbeit effizienter wird – und mehr Spaß macht.«
Die offenen Bereiche spielten dabei eine große Rolle, so Meyer. Denn hier könne man – anders als in den Amtsstuben von früher – Konflikten schlechter aus dem Weg gehen. Es fehle schlicht die Tür, die man hinter sich schließen kann. »Da hilft es, alles aktiv wahrzunehmen«, so Meyer. Zuhören, sich einbringen, Konflikte gemeinsam lösen: In der neuen Arbeitswelt kommt es verstärkt darauf an, selbstständig und im Team Entscheidungen zu fällen. »Und dann merken alle irgendwann: Es geht voran und macht zufrieden.«
Nach vier Projektjahren gemeinsam mit dem CeRRI wurden die rund 140 Mitarbeitenden der Senatsverwaltung befragt. Das Ergebnis: Sie arbeiteten besser zusammen, ihr Teamgeist wurde gestärkt, sie kommunizierten besser, wurden effizienter. Die Zufriedenheit stieg, und mobiles sowie flexibles Arbeiten etablierte sich als Selbstverständlichkeit. »Ein Gewinn für alle«, sagt Meyer. Seit Ende vergangenen Jahres setzt das Referat aufs Skalieren. Die Senatskanzlei des Regierenden Bürgermeisters ist nun mit an Bord, die Digitalkultur soll übersetzen und sich weiter ausbreiten. An einer Trennwand hängt der Spruch: »Enter gut, alles gut.«
Der Aufbau einer Digitalkultur fällt in eine Zeit, die generell einen Wertewandel in Bezug auf Arbeit erfährt. »Die Menschen legen generationenübergreifend weniger als früher den Fokus aufs Geldverdienen oder Karriere an sich«, sagt Katharina Hochfeld, Leiterin des CeRRI, in einem Teams-Call. »Sie fragen sich mehr, was sie mit ihrer Arbeit erreichen können, welchen Sinn sie damit verknüpfen – und welche Selbstwirksamkeit sie haben.«
Und doch: Die Entwicklung einer Digitalkultur ist kein Selbstläufer. Zu stark sind noch die Beharrungskräfte, zu groß der Wunsch vieler, nichts möge sich verändern. Arbeitskultur, sagt Hochfeld, lasse sich mit einer in ein Holzstück geritzten Schleifspur beschreiben. »Das sind die Gewohnheiten. Aus den Spuren auszubrechen, fordert Energie.« Es mache aber Sinn, einen Mehrwert im Verlassen alter Spuren zu sehen. In einer Vorbildfunktion sieht sie Vorgesetzte. »Führungskräfte sind nicht immer das Problem. Sie sind aber immer die Lösung.«
Und überhaupt: Wer sich verändern möchte, braucht Vorbilder. Diese Erkenntnis liegt dem Fellowship-Programm »Work4Germany« zugrunde. Unter dem Dach dieses Programms können Mitarbeitende aus Privatwirtschaft und Verwaltung für sechs Monate zusammenarbeiten. »Diese Tandems sind eine gute Möglichkeit, der Verwaltung Impulse von außen zu geben und sie gleichzeitig von innen heraus zu befähigen«, sagt Hannah Bergmann, Projektleiterin »Work4Germany« beim DigitalService (DS). Die hundertprozentige Tochter des Bundes ist mit dem Ziel angetreten, innovative digitale Lösungen für die Bundesverwaltung zu entwickeln und sie gemeinsam umzusetzen. In einem Satz: Der »DS« ist der Digitalisierungspartner der Verwaltung.
Kann »Work4Germany« einen Kulturwandel in der Verwaltung einleiten? Um das herauszufinden, beauftragte Projektleiterin Bergmann ebenfalls das CeRRI mit einer Studie zur Wirkungsmessung des Projekts. Auch hier zeigte sich: Agiles, nutzerzentriertes Arbeiten wurde nachhaltig implementiert, Arbeitszufriedenheit und Teamklima nahmen jedoch kaum zu. »Deshalb setzen wir noch mehr auf psychologisches Empowerment«, so Bergmann.
Digitalkultur, sagt Bergmann, sei ein Arbeitsumfeld, »in dem man sich sicher fühlt, ausprobiert und Fehler machen darf, Fragen stellt«. Für die Verwaltung sieht sie viel Luft nach oben: »Bisher wird viel darüber nachgedacht, Prozesse zu vereinfachen. Aber sie sollten öfters komplett überdacht werden.«
Als Befähigerin in Sachen Digitalkultur sieht sich Roda Müller-Wieland. Sie arbeitete mehrere Jahre beim Fraunhofer IAO und ist nun bei der Projektmanagementgesellschaft DEGES Projektleiterin für Schulung, digitale Kompetenz und Transformation. »Viele Organisationen nutzen noch gar nicht die Daten, die sie haben, um effizienter passendere Entscheidungen zu treffen«, sagt sie am Telefon. Die DEGES verantwortet Infrastrukturprojekte im Verkehrswesen; Schnelligkeit ist da Gebot und Digitalisierung der nötige Schmierstoff. Und um die voranzutreiben, hat auch die DEGES gemeinsam mit CeRRI ein Projekt gestartet, um die eigene Digitalkultur zu stärken. »Aber ein Kulturwandel braucht Zeit«, sagt Müller-Wieland. Ein neues Tool für Terminumfragen etwa beherrsche man nicht nach einer Schulung. Neue digitale Fähigkeiten müssten im Alltag zur Anwendung kommen, um sich zu setzen. »Anfangs muss erst mal ins Lernen investiert werden«, so Müller-Wieland. »Ein Tal der Tränen bleibt da nicht aus.« Doch wer Mut und Geduld nicht verliere, werde dann die Früchte der Transformation ernten – etwa eine Zeitersparnis, wenn Kapazitäten für höherwertige Aufgaben statt Routinetätigkeiten frei werden. »Damit treten wir auch dem Fachkräftemangel entgegen.«
Und so wird Digitalkultur zunehmend relevanter für Unternehmen wie Behörden. »Je stärker sie ausgeprägt ist, desto erfolgreicher ist die digitale Transformation überhaupt«, sagt Katharina Hochfeld vom CeRRI. Oder in den Worten des vor 77 Jahren verstorbenen Kabarettisten Karl Valentin: »Kultur ist nicht alles, aber ohne Kultur ist alles nichts.«