Eine Stadt zeigt Gefühl

Verkehrssicherheit und Stadtplanung

© Aristidis Schnelzer Hoch hinaus: Im »Bike Tower«, einem 16 Meter hohen Parkhaus am Osnabrücker Altstadtbahnhof, können rund 160 Fahrräder geschützt abgestellt werden.

167 000 Einwohnerinnen und Einwohner und ein Ziel: Die niedersächsische Großstadt Osnabrück arbeitet an der Mobilitätswende – sie setzt aufs Rad. Doch was, wenn man sich darauf nicht sicher fühlt? Eine Studie unter der Leitung des IAT der Universität Stuttgart lenkt den Blick auf die Orte in der Stadt, die Radfahrende als besonders stressig erleben.

Radfahrer mit einem Lastenrad auf einer Fahrradspur, umgeben von Bäumen und Stadtlandschaft.
© Aristidis Schnelzer
Radtour mit Hindernissen: Mobilitätsplaner Maximilian Heinke zeigt unseren Reportern jene Orte in Osnabrück, die für Pedalisten problematisch sind.
Verkehrsszenario an einer Stadtkreuzung mit mehreren Autos und einem modernen Gebäude im Hintergrund.
© Aristidis Schnelzer
Zum Beispiel der Berliner Platz in der Osnabrücker Innenstadt. Hier gibt es keine physische Grenze zwischen Fahrbahn und Fahrradweg.
Nahaufnahme einer Hand mit einer Smartwatch, die einen Fahrradlenker hält, auf einem gepflasterten Weg.
© Aristidis Schnelzer
Gefühlsmesser: Mit diesen elektronischen Armbändern wurden die körperlichen Reaktionen der Probandinnen und Probanden erfasst.

Maximilian Heinke hat mal wieder Stress. Gerade noch ging es für ihn entspannt geradeaus, doch jäh enden die schützenden Betonbarrieren entlang seiner Radspur – und Autos kreuzen plötzlich seinen Weg, als sie rechts abbiegen wollen. Er bremst das Lastenrad leicht ab, schaut nach links. Dann entscheidet er sich für die Flucht nach vorn, die Ampel leuchtet ihm grün zu, und er lenkt sein Gefährt über die Kreuzung am Berliner Platz in Osnabrück. Geschafft. »Das gab an dieser Stelle fette Ausschläge nach oben«, sagt er. Wie, wann: Spürte er eben Stress? »Nicht wirklich, aber er war da. Immerhin haben wir ihn bei Testfahrten hier mehrere Male eindeutig gemessen.«

Heinke, 27, ist auf dem Weg zu seinem Büro. Sein Job: Mobilitätsplaner bei der Stadt. Seine Mission der vergangenen drei Jahre: Stress im Radverkehr aufspüren und Letzteren sicherer sowie komfortabler machen. Hilfsmittel dafür waren ein Handy in der Hosentasche und ein Sensorband am Armgelenk, Typ »Empatica e4«. Dieses geht physischen Reaktionen und letztlich Gefühlen auf den Grund, die einem nicht immer bewusst sind. Aber diese Emotionsreaktionen wie etwa Ärger oder Angst können einen Faktor dafür bilden, ob man aufs Rad steigt oder nicht. Und das Rad wollen sie in Osnabrück fördern, bis 2030 plant die Kommune mit ihren rund 167 000 Einwohnerinnen und Einwohnern den Aufstieg in die Top 5 der deutschen Fahrradstädte.

Ihr hilft dabei eine wissenschaftliche Detektivarbeit, die das IAT der Universität Stuttgart zusammen mit seinen Projektpartnern zwischen Januar 2022 und Dezember 2024 in Osnabrück leistete: »Emotionsmessung für (E-)Fahrradsicherheit und Mobilitätskomfort« (ESSEM) – beim vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) geförderten Projekt wurden im Verkehr Momente von Unsicherheitsgefühlen gesucht, lokalisiert und interpretiert. Denn zweifellos ist eine Mobilitätswende Gebot der Stunde; die bisherige Flächennutzung im öffentlichen Raum gerät nicht optimal, sie überlässt vieles dem gestiegenen Autoverkehr, sorgt für schlechte Luft und Laune – weniger Lebensqualität. Für eine echte Wende aber braucht es einen Ausbau aktiver Mobilitätsformen wie Radfahren. »Wir wollen nun die Radspur nach rechts verlegen«, sagt Heinke, als sein Lastenrad den Berliner Platz hinter sich lässt. »So würden die Autos auf Abstand bleiben.« Dies ist eine von mehreren Erkenntnissen, welche die Emotionsmessung mittels der »Wearable-Technologie« bei »ESSEM« lieferte.

Im Büro wirft Heinkes Laptop eine Stadtkarte auf einen badewannengroßen Monitor an der Wand. Adern wie in einem Blutsystem verlaufen darauf in verschiedene Richtungen, das sind die Straßen. Gerade im Citybereich färben sich viele blau, »da wurde Stress ermittelt«; dann gibt es auf ihnen rote Punkte, »das sind Hotspots von Ungemach im Radverkehr«. Das dreijährige Projekt schickte 87 Probandinnen und Probanden durch die Straßen Osnabrücks. Sie ermittelten in 914 Stunden Fahrtzeit genau 55 248 Stressmomente. Die dafür ihnen mitgegebenen Handys und Sensorbänder lieferten sie ab, und Heinke übermittelte die gesammelten Daten ans Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Denn das IAT der Universität Stuttgart hat für dieses Projekt ein Konsortium gegründet: Neben dem Fraunhofer IAO beteiligten sich das KIT, die Paris Lodron Universität Salzburg, das Unternehmen Outdooractive AG und der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC). Der Monitor zeigt jetzt eine Exceltabelle mit Zahlen und Sonderzeichen, die runterratternden Gitter verschwimmen vor den Augen. »Die Empatica-e4-Bänder erhoben Daten zu Zeit, Position und Geschwindigkeit«, sagt Heinke. »Aber sie notierten noch mehr: Stress zeigt sich durch eine sinkende Hauttemperatur und eine steigende Hautleitfähigkeit, das ist der sogenannte Angstschweiß.« Für diese Ausschläge interessierten sich die Forschenden besonders.

 

 

Die Empatica-e4-Bänder erhoben Daten zu Zeit, Position und Geschwindigkeit. Aber sie notierten noch mehr: Stress zeigt sich durch eine sinkende Hauttemperatur und eine steigende Hautleitfähigkeit, das ist der sogenannte Angstschweiß.«

Maximilian Heinke, Mobilitätsplaner, Stadt Osnabrück
Mann in einem Besprechungsraum, der eine Präsentation an einem Bildschirm mit Grafiken und Bildern hält.
© Aristidis Schnelzer

An der Uni Salzburg hatte man einen Algorithmus trainiert, der genau diese Stressmomente herausfiltert. Jene Daten legten sie am KIT zusammengefügt übereinander als eine Dichtekarte – fertig war die »Heatmap«. Doch damit wusste man längst nicht, was den jeweiligen Stress verursacht. Die Daten kontextualisierte das »ESSEM«-Team, indem die Testpersonen Fragebögen beantworteten und in einem Workshop ihre Erfahrungen diskutierten. In einer Kontrollstudie wurden sie auf vorgegebene Routen geschickt, zwecks eines genaueren Checks der Stressausschläge. »Damit wurde eine Wissenslücke geschlossen«, sagt Heinke und klappt den Laptop zu. »Wir erfuhren konkret, wo Handlungsbedarf nach Stressparametern besteht.«

250 Meter nördlich vom Büro, am Hasetorwall, steht Heinke nun an solch einem ehemaligen Hotspot. Die Radverkehrsbeauftragte der Stadt, Ulla Bauer, ist aus dem Verwaltungsbau, einem ehemaligen Dominikanerkloster, hinzugekommen und inspiziert mit ihm die Straße. »Der Radfahrstreifen hier war bis vor Kurzem nur 1,20 Meter breit«, sagt sie. Autos rauschten also knapp an Rädern vorbei. Kurzerhand strich die Kommune die Parkstände am Straßenrand und verbreiterte damit die Fahrradspur. »Ich arbeite seit 30 Jahren bei der Stadt, in verschiedenen Funktionen«, sagt Bauer. 

Lächelnde Frau in einem schwarzen Mantel und blauer Bluse steht vor einer hellen Wand.
© Aristidis Schnelzer

 

 

Parteiübergreifend hat sich die Erkenntnis herausgeschält: So geht es mit dem Autoverkehr nicht mehr weiter. Eine Wende musste her.«

Ulla Bauer, Radverkehrsbeauftragte, Stadt Osnabrück

Seit Jahren nutzen immer mehr Osnabrücker zur Fortbewegung zwei statt vier Räder. »Dem tragen wir Rechnung und fördern diesen Trend. Es ist doch so: Man setzt sich auf das Fahrrad, fährt los und gut ist!« Radfahren, fügt sie hinzu, bringe im Alltag »diese Lächeln-Momente«, man sehe und grüße sich. »Das entspannt.« Vorausgesetzt, es gibt keinen Stress.

Osnabrück lernt dabei von anderen Kommunen, etwa von niederländischen jenseits der rund 90 Kilometer entfernten Grenze, oder von Kopenhagen. Seit den vorigen Siebzigern hat die Hauptstadt Dänemarks ihr Radwegenetz verdoppelt. Radfahren sollte schnell, einfach und sicher sein. Diese Stadtplanung entsprang keiner Ideologie, sondern nüchterner Betrachtung, nämlich aus einem bedürfnisorientierten Ansatz heraus, der den Zweirädern schließlich Vorfahrt gewährte: Dänische Sozialökonomen errechneten, dass Radverkehr im Vergleich mit Autofahren zu weniger Krankheitstagen führt und damit das Gesundheits- wie das Wirtschaftssystem entlastet; von den Kosten für beide durch Unfalltote ganz zu schweigen. Rad statt Auto führte zu mehr Zufriedenheit. Hinzu kamen Ersparnisse bei Straßenunterhaltungskosten – eine Win-win-Situation für alle Einwohnerinnen und Einwohner, die mittlerweile zu 45 Prozent zur Arbeit, zur Schule oder zur Uni auf Sätteln pendeln.

Auch in Deutschland hat man die Bedeutung des Radverkehrs und die Notwendigkeit seiner stärkeren Förderung erkannt. »Es gibt einen ehrgeizigen Nationalen Radverkehrsplan und gute technologische Einzellösungen«, sagt Heinke, als er sich wieder auf sein Lastenrad schwingt. »Aber oft hapert es an der Verknüpfung.« Was meint er damit? »Die Straßen sind da. Aber man kann sie ganzheitlicher betrachten. Wie etwa mit dem Public-Health-Ansatz in Kopenhagen.« 

Eine Studie des Fraunhofer ISI ergab im Jahr 2024, dass Deutschland den Radverkehrsanteil auf Wegen bis 30 Kilometer Länge bis 2035 von derzeit 13 auf 45 Prozent verdreifachen und die Verkehrsemissionen im Nahbereich um 34 Prozent reduzieren kann. 19 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente können jährlich eingespart werden, wenn die Radwege hervorragend ausgebaut, gute Schnittstellen mit Bus und Bahn geschaffen und die Kommunen fahrradfreundlich mit kurzen Wegen geplant werden. Heinke: »Alles kann ausgehandelt werden.«

Dafür braucht es Fakten. Ein Anruf bei Nora Fanderl und David Agola in Stuttgart, die beiden arbeiten im Team »Mobility Ecosystems« am IAT der Universität Stuttgart und dem Fraunhofer IAO, wo »ESSEM« geboren wurde. »Das Verkehrssystem ist überlastet, da kommen wir zu Abwägungsfragen – wenn unsere Gesellschaft eine zukunftsfähige Mobilität will«, sagt Fanderl. »Mit ›ESSEM‹ machen wir subjektive Wahrnehmungen, die durchaus wirkmächtig sind, greif- und sichtbar«, ergänzt Agola.

»ESSEM« habe in Osnabrück einen Prozess pilothaft abgebildet, den andere Kommunen nachvollziehen können. Überhaupt, sagt er: die Nutzung unterschiedlicher Datenquellen, um Verkehrserleben zu messen und zu analysieren, würde in der Zukunft noch ein größeres Thema werden. Mit dem Unternehmen Outdooractive arbeiten sie im Team an einer appbasierten Navigationslösung für Radfahrende, die stressreduzierte Routen vorschlägt. »Wir forschen in unserem Innovationsnetzwerk gemeinsam mit anderen Unternehmen, wie fortschrittliche Technologien das Sicherheitsempfinden steigern können.« Der Emotion-Sensing-Ansatz von »ESSEM« wurde so auch bei Produkten wie Abstandsmessern und Airbag-Rucksäcken fürs Rad getestet. »Das hat großes Potenzial.«

Ein Mann sitzt entspannt auf einem blauen Sofa in einem modernen Raum mit Pflanzen im Hintergrund.
© Aristidis Schnelzer
David Agola, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Team »Mobility Ecosystems« am IAT der Universität Stuttgart

Auch Osnabrück steckt erst mittendrin in der Mobilitätswende. Heinkes Gefährt passiert auf der Katharinenstraße, wo Räder »bevorrechtigt« sind, wie er es formuliert, als zweitausendundachtundzwanzigstes Rad dieses Tages einen elektronischen Zählposten, es ist 14:26 Uhr. Zwei Kilometer östlich pausiert er am Bahnhof bei der 2023 eingerichteten »Radstation«: Ein Parkhaus wurde umgewidmet und seitdem von 42 000 Radfahrenden zum Unterstellen benutzt, »zu 99 Prozent sind es Pendlerinnen und Pendler, die mit dem Zug weiterfahren«, sagt ihm ein Angestellter. »Einmal rundum?«, fragt er. »Muss weiter«, entgegnet Heinke, diesmal schiebt er sein Rad nicht in eine vollautomatische Waschanlage, wie man sie eigentlich nur für Autos kennt.

Gegen Ende seines Diensttags erlebt Heinke einen Stress der besonderen Art: Seine genommene Straße durchquert eine Fußgängerzone, Passantinnen und Passanten tasten sich auf Zebrastreifen an die bremsenden Räder heran. »Auch an dieser Stelle haben wir interessanterweise bei ›ESSEM‹ Stress gemessen«, sagt Heinke und lächelt. »Radfahrer ärgern sich, weil sie Rücksicht nehmen müssen.« Man kriege den Stress halt nie ganz aus der Stadt. Aber: »Alles kann ausgehandelt werden.«

Eine unscharfe Person mit einem blauen Helm, die an einem Informationsstand für öffentliche Verkehrsmittel vorbeigeht. Im Hintergrund ist ein rotes Informationsschild mit einem digitalen Zähler für Fahrräder sichtbar.
© Aristidis Schnelzer
Rahmendaten: In der Katharinenstraße werden Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer automatisch gezählt.
Innenansicht eines modernen Fahrradparks mit mehreren Reihen von Fahrrädern, die auf speziellen Halterungen stehen. Über den Fahrrädern ist ein gelbes 'A' angebracht
© Aristidis Schnelzer
Speichenkapazität: Auf über 4000 Quadratmetern bietet die zweitgrößte Radstation Deutschlands in Osnabrück Platz für 2300 Fahrräder für Tages- und Dauerparker sowie feste persönliche Stellplätze, die noch mehr Sicherheit und Komfort bieten.
Ein moderner Reinigungsstand für Fahrräder, der mit blauer Beleuchtung und Dampf arbeitet. Im Inneren ist ein Fahrrad sichtbar, während im Hintergrund weitere Fahrräder abgestellt sind.
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Full Service: Neben einer Fahrradwerkstatt gibt es in der Radstation auch eine vollautomatische Waschanlage für Fahrräder.

Weitere Informationen

Unser Beitrag zur Stadtmobilität hat Ihnen gefallen? Folgend finden Sie weiterführende Informationen zum Thema.

 

Projekt

ESSEM

Emotionsmessung für (E-)Fahrradsicherheit und Mobilitätskomfort: Wie sicher fühlen sich Radfahrende im Straßenverkehr tatsächlich? Das Projekt ESSEM nutzt innovative Emotionsmessung, um Stressfaktoren im städtischen Radverkehr zu identifizieren und die Radinfrastruktur von morgen mitzugestalten.

Forschungsbereich

»Stadtsystem-Gestaltung & Mobilitäts- und Innovationssysteme«

Am Fraunhofer IAO unterstützen wir Kommunen, Versorger und Unternehmen dabei, urbane Systeme und Prozesse agil und flexibel zu gestalten. Dabei verknüpfen wir unser Technologie-Know-how mit neuesten organisations- und raumwissenschaftlichen Erkenntnissen. 

 

Innovationsnetzwerk

Morgenstadt

Die Morgenstadt-Initiative verbindet technologische Innovationen mit sozialen und ökologischen Ansprüchen, um lebenswerte und nachhaltige Städte zu schaffen. Werden Sie Teil des Netzwerks und entdecken Sie maßgeschneiderte Lösungen für die Smart City von morgen!

Leistungsangebot

Strategien für smarte und nachhaltige Städte

Städte und Gemeinden sind längst dazu übergegangen die digitale Transformation aktiv voranzutreiben. Große, mittlere und auch kleine Kommunen treiben zum Teil höchst innovative Projekte voran, um Lebens- und Arbeitsräume mit Hilfe digitaler Technologien attraktiver, effizienter und lebenswerter zu gestalten. 

Leistungsangebot

Nachhaltige und effiziente Citylogistik

Als interdisziplinäres Team erarbeiten wir die konzeptionellen und datentechnischen Grundlagen für effiziente und nachhaltige Lieferprozesse im urbanen Raum. Dabei wissen wir, dass Liefersysteme nur dann funktionieren, wenn die besonderen Bedingungen im System »Stadt« berücksichtigt werden.

 

Aus dem Magazin »FORWARD

Dieses Interview ist Teil des Magazins 1/25 des Fraunhofer IAO und des IAT der Universität Stuttgart.