Wege in die Stadt der Zukunft

© Ivana Bilz
Im Werksviertel-Mitte in München forscht und erprobt das Fraunhofer IAO ab 2022 gemeinsam mit lokalen Partnern Ideen und Konzepte, die das Leben in der Stadt nachhaltiger gestalten: von Urban Farming bis hin zu Innovation Zones.

Städte spielen auf dem Weg zur Klimaneutralität eine entscheidende Rolle. Das Fraunhofer IAO entwickelt Zukunftsszenarien und konkrete Lösungen  für nachhaltige und resiliente Stadt- und Mobilitätssysteme von morgen.

In der Stadt der Zukunft leben Schafe, Hühner und Bienen auf einem großen Flachdach, die Wege gehören Fußgänger*innen und Radfahrer*innen und sind gesäumt von Hochbeeten, in denen Kräuter und Salat sprießen. Was nach einem Ort aus einem Kinderbuch von Astrid Lindgren klingt, ist Wirklichkeit im »Werksviertel-Mitte«. Rund 10 Hektar misst das Kreativquartier, das derzeit neben dem Münchner Ostbahnhof entsteht. Von Mietwohnungen bis Startup-Hub, von Grundschule bis Clubmeile, von Urban Gardening bis Konzerthaus: Im Werksviertel-Mitte wächst eine kleine »Stadt in der Stadt« heran, in der neue Formen des urbanen Lebens, neue Mobilitätskonzepte, Technologien und Wege der Wertschöpfung ausprobiert werden sollen.

Wie das im Kontext neuer Mobilität aussehen kann, zeigte das Fraunhofer IAO hier im Rahmen einer Kooperation mit der »IAA Mobility 2021« vom 7. bis zum 12. September 2021. Mithilfe von Demonstratoren und VR-Brillen konnten die Besucher*innen der Ausstellung Mobilitäts-, Versorgungs- und Fahrzeugkonzepte der Zukunft kennenlernen und in Workshops ihre eigenen Lösungsideen erarbeiten und diskutieren. »Wir wollten in co-kreativen Prozessen gemeinsam mit den Menschen die urbane Mobilität der Zukunft gestalten«, sagt Sebastian Stegmüller, Leiter Forschungsbereich »Mobilitäts- und Innovationssysteme«. »Eine Mobilität, die sich um den Menschen und seine Bedarfe dreht, nicht ums Auto.«

Bisher ist eher das Gegenteil der Fall. Städte weltweit klagen über verstopfte Straßen, verschmutzte Luft, teuren Wohnraum und lange Arbeitswege. Verschärft wird die Lage durch das rasante Wachstum urbaner Zentren. Berechnungen der Vereinten Nationen zufolge lebten 2018 rund 55 Prozent der Weltbevölkerung – rund 4,2 Milliarden Menschen – in Städten. 2050 sollen es bereits 68 Prozent – rund 6,7 Milliarden Menschen – sein. Eine Entwicklung, die zeigt: Das Ringen um den Klimaschutz wird in den Städten gewonnen.

Es braucht jedoch ein Umdenken in vielen Bereichen – von Mobilität über Wohnen, Handel, Logistik, Energieversorgung bis Städtebau. Kompakte, nutzungsgemischte Bauweisen etwa reduzieren Flächenverbrauch und verkürzen tägliche Wege. Die Reduzierung des Individualverkehrs ermöglicht den Rückbau von Parkplätzen zugunsten von klimaaktiven Grünflächen, was Mensch und Klima zugutekommt. »Die über zehntausend Städte weltweit sind zentrale Akteure für das Erreichen der Klimaschutzziele«, sagt Steffen Braun, Leiter Forschungsbereich »Stadtsystem-Gestaltung«. Doch echte Transformation wird nur möglich, wenn die Bevölkerung aktiv beteiligt ist. »Deshalb ist es so wichtig, Innovationen mit den Menschen in den Quartieren und Städten vor Ort gemeinsam zu gestalten.«

Für die Mobilität und die Stadt der Zukunft sind ineinandergreifende Innovationsprozesse nötig, welche die verschiedenen Sektoren miteinander verbinden. Am Fraunhofer IAO bündeln hierzu mehrere Forschungsbereiche ihre Kompetenzen und Expertisen, um beispielsweise Virtual-Reality-Werkzeuge zur Nutzerakzeptanz für zukünftige Mobilitätsformen zu entwickeln.

Die »elastische« Stadt

Wie man die Vorstellungen von Bürger*innen in wissenschaftliche Zukunftsszenarien integriert, zeigt die Studie »#ELASTICITY. Experimentelle Innenstädte und öffentliche Räume der Zukunft«, der Innovationspartnerschaft »Innenstadt 2030+ | Future Public Space«, an der das Fraunhofer IAO beteiligt ist. Die 2021 veröffentlichte Studie erfasst zum einen die Wünsche von über 1000 Vertreter*innen von Kommunen sowie Bürger*innen an Innenstädte. Zudem identifiziert sie eine Reihe von Handlungsfeldern, die für Veränderung relevant sind. Auch die im Zuge der COVID-19-Pandemie auftretenden Veränderungen werden berücksichtigt. Am Ende steht ein »Leitszenario« der elastischen Innenstadt, aus dem sich konkrete Handlungsempfehlungen für Stadtgestalter*innen ableiten lassen.

»Es ist wichtig, die Wünsche der Bevölkerung miteinzubeziehen, weiterzudenken und mögliche Zukünfte aufzuzeigen«, sagt Steffen Braun, der auch Mitbegründer der Fraunhofer-Initiative Morgenstadt ist, aus der auch die #ELASTICITY-Studie hervorging. Die Studie zeige, dass Städte bislang zu sehr von starren Strukturen und monofunktionalen Räumen geprägt seien. Die Stadt der Zukunft müsse multifunktionaler und beweglicher, also »elastischer« sein. »Wir brauchen öffentliche Räume, an denen neue Ideen erprobt werden können«, so Braun. Von »Vertical Farming« bis »Innovation Zones«: Die Stadt von morgen müsse ihren Bewohner*innen die Möglichkeit bieten, unterschiedliche Zukunftsszenarien zu testen und zu erleben. »So wird sie zur Bühne für ein neues soziales und nachhaltiges Miteinander.«

»Um Stadtsysteme wie Mobilität, Versorgung oder Handel grundlegend zu verändern, muss man ein tiefes Verständnis für die Prozesse entwickeln, die dahinter liegen«, sagt Florian Herrmann, stellvertretender Institutsleiter des Fraunhofer IAO. Hier spielen die Interessen verschiedener Akteure ebenso eine Rolle wie die Potenziale neuer Technologien. Im Kern, so Herrmann, gehe es darum, tradierte Systeme durch neue Lösungen, die sowohl ökologisch als auch ökonomisch und sozial sinnvoll sind, zu erweitern oder gar gänzlich neu zu konzipieren. »Deshalb nutzen wir kollaborative Forschungsansätze und digitale Werkzeuge, um Stadt- und Mobilitätssysteme zu erforschen und realistische Zielszenarien zu deren Veränderung zu entwickeln.«

Innovationen aus dem Labor auf die »echte« Straße bringen

Darüber hinaus erarbeitet das Institut Lösungen für Städte und Unternehmen, die sich auf den Weg in eine klimagerechte Zukunft machen wollen. Für Pforzheim etwa haben Forschende des Instituts datengestützt untersucht, wo sogenannte Mobility Hubs eingerichtet werden sollten – Parkhäuser, in denen Pendler*innen vom Auto auf den ÖPNV, Carsharing, Fahrräder oder E-Scooter umsteigen können. Im Verbund mit Dienstleistungs- und Einzelhandel könnten solche »Drehscheiben« helfen, Fahrtwege zu vermeiden – und so einen Beitrag zur Verkehrswende leisten.

Ein weiteres Beispiel ist die »Straße der Zukunft«. In dem vom BMBF geförderten Projekt unterstützen die Fraunhofer-Institute IAO und IGB Kommunen dabei, ressourceneffiziente Straßeninfrastrukturen zu planen und umzusetzen. Im Fokus stehen etwa die Speicherung, Aufbereitung und Nutzung von Oberflächenwasser. Erforscht wird zudem, unter welchen Umständen Straßen als Testfelder zur Erprobung neuer Mobilitäts- und Logistiklösungen, eine Sensorinfrastruktur zur Optimierung von Verkehrsflüssen oder zur Messung von Umweltdaten fungieren können. Gemeinsam mit Partnern aus Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung werden in Erlangen und Ludwigsburg modellhaft neue Lösungen erprobt.

Ein weiteres Produktkonzept des Fraunhofer IAO, das Elektromotorrad »Core«, wurde 2021 gar mit dem »German Design Award« in der Kategorie »Excellent Product Design« prämiert. Das Zweirad wurde für den Einsatz in der Stadt entwickelt und verbindet Alltagstauglichkeit mit Ansprüchen an Nachhaltigkeit und Smartifizierung. »Um erfolgreich neue Produkte und Services am Markt platzieren zu können, gilt es, die Vielzahl an Anforderungen strategisch in Lösungen zu überführen. Die Designsprache dient dabei als Werkzeug, Funktionen neuer Technologien zu kommunizieren, Kundenwerte und Wünsche abzubilden und Akzeptanz für Neues zu schaffen«, sagt »Core«-Projektleiterin Franziska Braun.  

Städte weltweit für den Klimawandel stärken

Die »Morgenstadt Global Smart Cities Initiative« (MGI) des Fraunhofer IAO und weiterer Institute wiederum hat es sich zur Aufgabe gemacht, Städte für die Folgen des Klimawandels zu rüsten. Das dreijährige Verbundprojekt der internationalen Klimaschutzinitiative des Bundes unterstützt die Städte Kochi (Indien), Saltillo (Mexiko) und Piura (Peru), die auf unterschiedliche Weise vom Klimawandel betroffen sind, dabei, nachhaltige Transformationsprozesse zu entwickeln und umzusetzen. Langfristiges Ziel der Initiative ist es, global skalierbare Strategien für mehr Resilienz gegenüber Klimarisiken zu entwickeln. 

Im indischen Kochi etwa könnten die Menschen ihre Lebensmittel in solarbetriebenen Kühlgeräten lagern und Wirtschaftskreisläufe auf Stadtteilebene stärken. So würden sie weniger abhängig von fossilen Energieträgern oder Lieferketten. Ein neuer Wassermasterplan soll künftig die Wasserversorgung, den Grundwasserschutz und das Abwassermanagement in der von Extremwetterereignissen heimgesuchten Stadt regeln.

Ein Campus fürs Klima

Beispiele, die zeigen, wie gewaltig die Aufgabe ist, vor der die globale Gesellschaft steht: Die Stadt, das »natürliche Habitat des modernen Menschen«, muss neu gedacht werden. Eine Aufgabe, die nur gelöst werden kann, wenn Menschen über die Grenzen von Branchen und Disziplinen hinweg zusammenarbeiten. Um die Kooperation zwischen Wirtschaft und Wissenschaft zu fördern sowie gänzlich neue Konzepte vorzudenken und umzusetzen, hat sich das Fraunhofer IAO das Ziel gesetzt, eine real-virtuelle Forschungsplattform für Klimaneutralität aufzubauen. Angelehnt an das Konzept des »Metaverse« soll ein Handlungsraum entstehen, der Datenpool, Kommunikationsplattform und Arbeitsumgebung zugleich ist – und damit die Simulation, den Vergleich und die Entscheidungsfindung verschiedener Zukunftsoptionen für reale Zwecke ermöglicht.

Der physische Standort der Initiative wird zunächst auf dem Stuttgarter Fraunhofer-Campus sein. Tatsächlich aber ist sie überall auf der Welt zu Hause, ob eingesetzt in globalen Forschungsprojekten oder in realen Quartieren wie dem Werksviertel-Mitte: Als real-virtuelles Forschungsnetzwerk bietet es den unterschiedlichsten Akteuren die Möglichkeit, in Echtzeit an gemeinsamen Projekten zu arbeiten und somit einen Beitrag zur Klimaneutralität zu leisten. »Unser Ziel ist es, die im Zuge des aufkommenden ›Metaversums‹ entstehenden Möglichkeiten einer real-virtuellen Kooperation zu nutzen«, sagt Florian Herrmann. »Auf diese Weise wollen wir dazu beitragen, Wissenstransfer erheblich zu beschleunigen und Innovationssprünge auf vielen Ebenen voranzutreiben.«