Schritt halten mit der Zukunft

© Fraunhofer IAO | Foto: Ludmilla Parsyak
Weiterbildung in der Montage: Hier kann eine AR-Brille den Nutzenden mithilfe eines Objekterkennungssystems durch den Prozess führen und schnelles Trainieren von neuen Objekten erleichtern.

Der Arbeitsmarkt verändert sich rasant. Mit zunehmender Digitalisierung werden einige Jobs entfallen, andere neu entstehen. Darauf müssen sich Unternehmen wie Arbeitnehmer*innen einstellen, indem sie sich laufend weiterbilden und neue Tätigkeitsfelder erschließen. Das Fraunhofer IAO unterstützt sie dabei.

Zukunft ist ein schwer greifbares Konzept, aber um ein Gefühl dafür zu bekommen, wohin die Reise in Sachen Weiterbildung gehen könnte, lohnt ein Blick auf folgendes Szenario: Sabine Lange möchte sich beruflich neu orientieren, weil ihre Firma umstrukturiert wird. Die 42-Jährige lässt sich online beraten und erhält nach einer Infoveranstaltung die Zugangsdaten für eine digitale Lernplattform, auf der sie sich umschaut. Mit der Anmeldung gleicht eine Künstliche Intelligenz (KI) ihr Profil mit dem ab, was auf dem Arbeitsmarkt gefragt ist, und fi ltert aus einer Fülle an Qualifi zierungsangeboten jene heraus, die am besten zu ihr passen. Lange bespricht daraufhin mit einer Beraterin diese Optionen, trifft eine Entscheidung und startet ihre Fortbildung. Der Online-Kurs besteht aus verschiedenen Modulen mit Input-Sequenzen, individuell auf sie abgestimmten Lerneinheiten sowie Projektarbeiten, die in Kleingruppen zu erledigen sind. Die KI kommt hierbei gleich doppelt zum Einsatz: bei der Zusammenstellung der Kurse und der Gruppen, deren Teilnehmende so gewählt sind, dass alle inhaltlich auf einem Level sind, aber unterschiedliche Backgrounds haben, um möglichst viel voneinander lernen können.

Soweit das Szenario. Davon ist man heute noch recht weit entfernt. Bis ein solches Modell umsetzbar wäre, müssten viele Fragen geklärt werden, nicht zuletzt datenschutzrechtliche. Aber so weit entfernt auch wieder nicht. Tatsächlich wird dieser Ansatz gerade erforscht. KIRA (kurz für »KI-gestütztes Matching individueller und arbeitsmarktbezogener Anforderungen für die berufliche Weiterbildung«) heißt das neue Verbundprojekt, welches das Forschungs- und Innovationszentrum Kognitive Dienstleistungssysteme KODIS des Fraunhofer IAO mit neun regionalen Partnern aus Heilbronn-Franken im September 2021 startete. Es gehört zu einem von 35 Forschungsprojekten, die im Rahmen des Innovationswettbewerbs INVITE vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert werden. »Wir wollen herausfi nden, wie sich Interessen und Anforderungen datenbasiert und KI-unterstützt zusammenführen lassen«, sagt Kai Schmieder, wissenschaftlicher Mitarbeiter am KODIS und Projektleiter bei KIRA. »Das Ziel ist, dieses Matching bestehender Lernplattformen irgendwann als Cloud-Service anzubieten.«

Lebenslanges Lernen für den digitalen Wandel

Welche Bedeutung der Weiterbildung zukommt, zeigt sich auch an einer Vielzahl von Projekten, die innerhalb des Teams »Kompetenzmanagement« am Fraunhofer IAO angesiedelt sind. »Weiterbildung ist das zentrale Element bei der Transformation der Arbeitswelt«, sagt Bernd Dworschak, der Leiter dieses Teams. Denn der digitale Wandel schreitet zwar unaufhaltsam voran, aber es braucht immer auch den Menschen, der die neuen Technologien nutzt. Viele Tätigkeitsfelder werden sich wandeln, andere infolge zunehmender Automatisierung teilweise oder vollständig entfallen. Gleichzeitig entstehen aber laufend neue Berufe und Geschäftszweige. »Wer hier mithalten möchte, muss sich darauf einstellen, ständig neu dazuzulernen und sich mitunter beruflich neu zu erfinden«, so Dworschak. So wurde beispielsweise im Projekt »STEPS – Strategische Technologien und Entwicklung professioneller Skills« für den Netzbetreiber Bayernwerk der gesamte Themenkanon »Technologie-Kompetenzen-Lernen« bearbeitet und pilotiert. Welche Technologien wird das Unternehmen in Zukunft nutzen? Über welche Kompetenzen fachlicher, digitaler und überfachlicher Natur verfügen die Beschäftigten heute und welche neuen oder veränderten Kompetenzen werden zur Bewältigung zukünftiger Aufgaben benötigt? Welche Lernpfade und Lernformate gibt es zur Schließung etwaiger Kompetenzlücken? Das Ziel der Zusammenarbeit war ein Startimpuls für den Aufbau und die nachhaltige Verankerung eines strategieorientierten Kompetenzmanagements. »Wir beobachten eine steigende Nachfrage nach solchen Weiterbildungsformaten«, sagt Bernd Dworschak.

Auch die Politik hat die Bedeutung von beruflicher Weiterbildung und lebenslangem Lernen erkannt und will diese künftig stärker fördern, vor allem die Bildung im digitalen Raum. Auch die Erforschung der KI-Technologie wird vorangetrieben. Im Juni 2020 etwa beschloss die damalige Regierungskoalition, bis 2025 fünf Milliarden Euro für die Erforschung und Förderung von KI auszugeben. Das ist nicht wenig, die Frage ist aber: Kommt das überall an? Große Unternehmen mögen in dieser Hinsicht schon weiter sein, aber der Mittelstand hat oft noch etwas Nachholbedarf.

Dr. Rainer Nägele, Leiter des Forschungsbereichs »Dienstleistungs- und Personalmanagementsysteme« am Fraunhofer IAO, hat vor allem diese Unternehmen im Blick. »Viele Betriebe sind in der Umsetzung noch recht weit von dem Thema entfernt«, sagt er. »Sie wissen zwar um das Potenzial von Digitalisierung und KI, wissen aber nicht, wie sie diese Potenziale für sich nutzen können.« Oft fehlt es an Kapazitäten, um sich in dem Bereich besser aufzustellen. Oder sie finden keine Fachkräfte, wenn sie sich diese überhaupt leisten können. »Die zentrale Frage ist daher: Wie bekommt man die eigenen Mitarbeitenden möglichst schnell so fit, dass sie die neuen Technologien anwenden können?«

Globalisierung und neue Technologien wie KI machen den Wandel quasi zum Normalzustand und setzen Unternehmen unter ständigen Veränderungsdruck. »Lebenslanges Lernen« auf allen betrieblichen Ebenen muss zur Normalität werden. Dies setzt eine innovative Unternehmenskultur sowie agile Prozesse und Strukturen voraus.

Fachkräfte schulen, Potenziale erkennen

2021 wurde dann eine neue Projektidee von ihm und Prof. Dr. Marc Rüger, Leiter Team »Business Education und Innovation« entwickelt. Die Folgefrage war nämlich: Wen müsste man eigentlich schulen? In erster Linie die Ingenieur*innen. Gibt es Angebote für sie? Einer Marktrecherche zufolge kaum. Rüger und sein Team erkannten, dass das deutsche Weiterbildungssystem in seiner jetzigen Form den Anforderungen von Unternehmen und ihren Mitarbeitenden nicht mehr gerecht wird. Zwar gibt es US-Anbieter, wie beispielsweise Udacity – eine Online-Universität, die sogenannte MOOCS (»massive open online courses«) anbietet in diesem Bereich, die jeder gegen Gebühr nutzen kann, sofern seine Englischkenntnisse dafür ausreichen. Aber es braucht auch eigene Angebote. Und so entstand die Idee, eine Weiterbildungsplattform auf akademischem Niveau für Baden-Württemberg oder Deutschland zu entwickeln, mit entsprechenden Abschlüssen und Zertifikaten. Mit der Dieter-Schwarz-Stiftung gewann das Team einen finanzstarken Investor für sich und erarbeitet nun in einer Vorstudie erste Konzepte dafür, wie eine solche Lösung aussehen könnte, gemeinsam mit weiteren Partnern, darunter Hochschulen, Universitäten, die IHK und die Bundesagentur für Arbeit. Mitte des zweiten Quartals 2022 soll das Konzept stehen und auch ein erster Pilot.

Einen anderen Ansatz verfolgt das Team um Dr. Thomas Fischer, Leiter des Business Innovation Engineering Center BIEC am Fraunhofer IAO. »Viele mittelständische Unternehmen in Baden-Württemberg sind technisch hervorragend und arbeiten hart daran, ihre Produkte immer weiter zu verbessern«, sagt Fischer. »Dagegen spricht auch nichts. Es lohnt sich aber, sich das Gesamtsystem einmal genauer anzusehen. Denn mittlerweile wird der Wettbewerb häufig über den Service und das Geschäftsmodell entschieden.«

Smart Services sind hier ein wichtiges Stichwort. Mithilfe der Digitalisierung könnten viele innovative Ideen rund um ein Produkt entstehen, etwa datengetriebene: Man erfasst die Nutzung eines Geräts und leitet daraus einen Service ab. Oder man ermittelt über eingebaute Sensoren einen Bedarf und kreiert eine passende Dienstleistung dazu. Einfaches Beispiel: Eine Kaffeemaschine meldet dem Hersteller, wenn ein Bauteil abgenutzt ist oder die Bohnen zu Neige gehen. Aber auch: Anders als früher verkauft ein Werkzeugmaschinenhersteller seine Maschine nicht, sondern stellt sie seinem Kunden in die Fabrikhalle und rechnet die Nutzung der Anlage ab.

Wer sich das Potenzial erschließen möchte, muss sich zunächst der Möglichkeiten bewusst werden. Daher arbeitet das BIEC daran, Berührungsängste abzubauen und Unternehmen über niederschwellige Weiterbildungsangebote an diese Themen heranzuführen, Einsatzgebiete zu zeigen und Methodenwissen zu vermitteln, sei es über Einführungsvideos, Webinare oder Coachings. »Wir wollen die Leute ermutigen, lieber klein anzufangen und schrittweise darauf aufzubauen, jeder in seinem Tempo, statt es von vornherein sein zu lassen, weil es zu groß und aufwändig erscheint«, sagt Fischer. Schließlich beginnt jede Reise, egal wohin, mit dem ersten Schritt.